«Als Kind und als Jugendliche hatte ich mir vorgestellt, wie ich meinen Vater meuchlings in den Fluss stiess, in dem meine Mutter sich ertränkt hatte, wie ich ihn vergiftete oder mit einem Messer erstach.»
Die Berliner Schriftstellerin Natascha Wodin ist heute 73-jährig. In ihrem bisherigen literarischen Schaffen beschäftigte sie sich immer auch mit ihren Eltern, über die sie wenig wusste. In ihrem neusten Werk erzählt sie vom Unheil, das ihr Vater in ihrem Leben anrichtete.
Verstossen in Deutschland
Das eindrucksvolle Buch bildet in vielem die Fortsetzung des preisgekrönten Romans «Sie kam aus Mariupol» von 2017. Dort erzählt Natascha Wodin von ihrer Suche nach der Mutter, die sie als kleines Mädchen durch Suizid verloren hatte.
Das war 1956. Natascha war 11-jährig. Die Mutter war am grausamen Los ihres Lebens zerbrochen: Die aus der Ukraine stammende Frau war während des Kriegs von den Nazis nach Deutschland verschleppt worden und musste dort Zwangsarbeit leisten.
Als der Krieg zu Ende war, blieb sie mit ihrem Mann – auch er ein ehemaliger sowjetischer Zwangsarbeiter – in Deutschland, als «Displaced Person», als Heimatlose: ein Leben am Rand der Gesellschaft.
Dem Vater ausgeliefert
Nach dem Suizid der Mutter lebte Natascha Wodin zusammen mit der jüngeren Schwester und dem Vater in einer gesichtslosen Ausländer-Betonsiedlung im bayrischen Fürth. «Da sass er dann und las und rauchte», erinnert sich Natascha Wodin an ihren Vater, «er sass und las und trank Rotwein, den er vorher in einer grossen weissen Tasse mit einem Tauchsieder angewärmt hatte.»
Natascha und ihre jüngere Schwester waren den Launen des Vaters ausgeliefert – einem Trinker, gewalttätig. Schläge waren an der Tagesordnung.
Er schob die Töchter ab – Natascha in ein Waisenhaus, später in ein katholisches Mädchenheim, dann auf einen Bauernhof in Belgien. Mit 16 landete sie auf der Strasse, wurde vergewaltigt.
Die Recherche zeigte kaum Früchte
Sie nahm an sich selbst eine Abtreibung vor. Da war kein Vater, der ihr in ihrer tiefen Not beigestanden wäre.
Wer dieser schweigsame Mann, der 1989 in einem deutschen Altersheim starb, wirklich war, verschloss sich der Autorin Zeit ihres Lebens. In ihrem aktuellen Roman versucht sie Licht ins Dunkel zu bringen. Im Unterschied zum letzten Roman «Sie kam aus Mariupol» über die Mutter ist die Recherche dieses Mal weit weniger ergiebig.
Unerträgliche Intensität
Man erfährt wenig mehr über den Mann, als schon im letzten Buch zu lesen gewesen ist: Dass er 1900 in der Sowjetunion geboren wurde, in erster Ehe mit einer Jüdin verheiratet war und später von den Nazis verschleppt wurde.
Von bisweilen geradezu unerträglicher Intensität ist indessen die Schilderung dessen, was des Vaters Versagen im Leben der Autorin anrichtete, sie zwischenzeitlich zur Streunerin und Bettlerin werden liess.
Der Absturz bleibt aus
Der vorhersehbare Totalabsturz blieb aus, dank einem Personalchef, welcher der jungen Frau eine Anstellung als Telefonistin gab und sie zum ersten Mal in ihrem Leben Tritt fassen liess.
«Irgendwo in diesem Dunkel» berührt. Es erzählt wie bereits das Vorgängerwerk «Sie kam aus Mariupol» auf hohem literarischem Niveau eine wahre Geschichte, die nicht wahr sein dürfte.