Nah standen sie sich nicht, er und sein Vater – das legt der 49-jährige Autor Miljenko Jergović rasch klar. Es sei eine Beziehung gewesen, in der Entfremdung und vor allem Hilflosigkeit im Vordergrund standen. Miljenko Jergovićs Eltern hatten sich bald nach seiner Geburt getrennt. Als einziges Kind blieb er bei seiner Mutter.
Dem Vater fremd und doch so ähnlich
Dobro Jergović, Miljenkos Vater, kam 1928 in Sarajevo zur Welt, später wurde er dort zum hochgeschätzten Arzt und Leukämiespezialisten. Ab und zu, so erinnert sich der Autor, nahm ihn der Vater zu Krankenbesuchen mit. Oder er traf ihn, um ihm Taschengeld und kleine Geschenke zu überreichen. Was es nicht gab, waren Gespräche über jene Dinge, die den Vater geprägt hatten – und die also nur unterschwellig die Vater-Sohn-Beziehung prägten. Sein Vater, schreibt Jergović, sei ein «schwacher Mann» gewesen.
Faszinierend an Jergovićs Rückschau ist die ehrliche Auseinandersetzung mit den vielen Parallelen, die es zwischen seinem Vater und ihm gab. Auch der Vater war als einziges Kind allein mit seiner Mutter aufgewachsen.
Die faschistische Grossmutter
Dobro Jergovićs Mutter, Štefanija, musste nicht nur das Verlassenwerden verkraften, sondern auch einen Vater, der einen unglaublichen Lottogewinn in kurzer Zeit verprasste. Dennoch war sie nicht nur eine «verbitterte Katholikin» gewesen, sondern vor allem eine begeisterte Nationalistin und Anhängerin der faschistischen Ustascha.
Als ihr Sohn Dobro 1945, damals 17-jährig, von Partisanen auf der Strasse rekrutiert wurde, kämpfte er nach Meinung seiner Mutter auf der «falschen Seite». Dobro kehrte typhuskrank aus dem Krieg zurück – seine Mutter verweigerte ihm Wasser und liebevolle Fürsorge.
Kollektive und persönliche Schuld
Miljenko Jergović folgert aus dieser erschütternden Geschichte zwei Dinge: Der Vater hatte seiner Mutter verziehen. Und: «Er gestattete sich den emotionalen Zustand nicht, in dem er ihr etwas zu verzeihen gehabt hätte» – das entsetzt den Autor. Seiner Meinung nach hätte sich der Vater nicht nur persönlich, sondern auch politisch positionieren müssen.
Die Schuld der Ustascha und ihres faschistischen Terrors – allein im Konzentrationslager Jasenovac wurden 100'000 Serben, Juden, Roma und Kommunisten ermordet – zieht sich durch seine eigene Familiengeschichte. Für Miljenko Jergović zerstörte dies einerseits die Grundlage seiner Beziehung zum Vater; andererseits fühlt er sich an der Kollektivschuld seines Landes beteiligt.
Die grosse Tragödie bestimmt intime Beziehungen
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Dadurch ist dieses Buch auch eines, das den Schmerz über viel Versäumtes bekennt. Denn Jergovićs Vater, der Atheist, der pflichtbewusste und moralisch der Gleichheit aller Menschen verpflichtete Arzt, hatte viel mit ihm selbst gemeinsam gehabt.
Miljenko Jergovićs Bilanz ist Abrechnung, Gedenken und Würdigung in einem. Im letzten Telefongespräch aus dem Krankenhaus hatte der Vater ihm seinen Dank für sein Schreiben und seine Aufrichtigkeit ausgedrückt. Wie als Antwort darauf zeigt Miljenko Jergović nun in seinem Buch, in welchem Masse die Konfliktlinien der jugoslawischen Tragödie durch die intimsten Beziehungen gehen und diese prägen.