Er hat seit rund einem Jahr den vielleicht schönsten und zugleich schwierigsten Job im deutschsprachigen Buchverlagsgeschäft: Jo Lendle, Chef beim Münchner Hanser-Verlag. Vielen gilt dieser als der wichtigste literarische Verlag zwischen Zürich und Hamburg.
Entritt in den digitalen Markt
Der 46-jährige Lendle ist einer Tradition verpflichtet und muss den Verlag zugleich behutsam modernisieren. Das ist nicht leicht. Auch, weil das Buchgeschäft gerade gehörig durchgerüttelt wird und zunehmend branchenfremde Firmen wie Amazon den Takt bestimmen.
Es ist daher durchaus als selbstbewusstes Statement zu verstehen, dass Jo Lendle die «Hanser Box» gegründet hat. Unter diesem Namen lancierte er Anfang Oktober einen digitalen Verlag. Wöchentlich erscheint ein aktueller Titel, den es nur als E-Book gibt. Demonstriert werden soll so nicht zuletzt, dass ein Traditionshaus wie Hanser mit der rasanten digitalen Entwicklung Schritt hält. Lendle sagt: «Es geht darum, uns selbst die Augen zu öffnen: Wie würde man das Verlegen heute erfinden, wenn man es noch einmal neu erfinden würde? Wie können im Digitalen neue Erzählformen, neue Literaturen kreiert werden?»
«Ungeheuer langweilig»
Bislang dominieren bei «Hanser Box» kurze, konventionelle Texte: Essays, Erzählungen, Gedichte, wie sie auch in Zeitschriften erscheinen könnten. Das folgenreiche Experiment mit neuen Textformen lässt weiter auf sich warten. Dabei propagiert die Netzgemeinde seit Jahren, dass sich das Erzählen grundsätzlich wandeln wird. Lendle glaubt das auch, doch mit konkreten Voraussagen hält er sich zurück: «Es wird sich verändern, aber wahrscheinlich nicht in der Weise, die sich im Moment beobachten lässt und ungeheuer langweilig ist.»
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Ökonomisch ist «Hanser Box» im Konzert des gesamten Verlags irrelevant, «weniger als ein Blinddarmfortsatz», bekennt Lendle. Die Absatzzahlen sind gering. Die digitalen Bücher ohne Doppelgänger auf Papier leiden an einem Aufmerksamkeitsdefizit: Die Literaturkritiker konzentrieren sich auf die papierenen Neuerscheinungen. Auch grosse Verkaufserfolge sind in aller Regel an das traditionelle Buchformat gebunden. Doch das ist eine Momentaufnahme.
Antwort auf die Digitalisierung
Man muss kein Prophet sein, um absehen zu können, dass sich die Gewichte schon bald weiter verschieben werden. Verlagen wie Hanser wird deshalb zunehmend ein heikler Balanceakt abverlangt. «Wir sind in einer disruptiven Situation, in der man den Ast, auf dem man sehr gut und bequem sitzt, absägen muss», formuliert der Hanser-Verleger.
Dies heisst nichts anderes, als dass Hanser sein E-Book-Experiment weiter vorantreiben will, obwohl dadurch das traditionelle Buchgeschäft beeinträchtigt wird. Ängstlich wirkt Jo Lendle dabei nicht, sondern eher wie ein Verleger mit viel Lust am Neuen. Aber vielleicht bestimmt ihn auch einfach nur die Überzeugung, dass der Gedanke «das sollte es besser nicht geben» eine ungenügende Entgegnung auf alle durch die Digitalisierung angestossenen Prozesse ist.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur Aktualitäten, 9.12.2014, 7.10 Uhr