«Wir freuen uns, dass du geboren bist», singt die Mutter am siebten Geburtstag der Ich-Erzählerin. Es ist das Jahr 1963 und das Geburtstagskind weiss: An dem Lied ist «ungefähr alles gelogen», und sie wird das lang gewünschte Kätzchen wieder nicht zum Geburtstag bekommen.
Von Freude an dem Mädchen kann keine Rede sein: weder bei der Mutter, die sich – geprägt von der Nazizeit – statt des dunklen «Wildfangs» einen blondlockigen Jungen wünschte und dem gefallenen Verlobten nachtrauert, und erst recht nicht beim viel jüngeren Vater, der heiraten muss und mit dem Wissen der überforderten Mutter die Kleine regelmässig und auf brutalste Weise misshandelt.
Süffiger Plauderton
Schauplatz der tiefschwarzen, freilich in süffigem Plauderton erzählten Geschichte ist ein Vorort von Frankfurt am Main: Dort sind Mutter und Kind, nach dem Wegzug aus der DDR, via diverser Flüchtlingslager, im «Land der Verheissung» gelandet. Auch der frustrierte Vater findet dorthin, um in der «Rotfabrik» mit harten Ellbogen seine Karriere zu lancieren.
Mit ihrem fünfzehnten Roman kehrt die Autorin Birgit Vanderbeke – diesen Sommer sechzigjährig und seit langem in Südfrankreich ansässig – zum Stoff ihres fulminanten Debüts «Muschelessen» vor einem Vierteljahrhundert zurück.
Beitrag zum Thema
Bis sich die Zungen lösen
In jener, mit dem Ingeborg-Bachmannpreis ausgezeichneten Erzählung, warten Mutter und Kinder endlos vor einem ekligen Berg von Muscheln am Tisch auf den eben beförderten Vater – bis sich ihre Zungen lösen und es zur unerbittlichen Abrechnung kommt mit dem rücksichtslosen Haustyrannen und dem verlogenen Kleinstadtmief der deutschen Nachkriegszeit.
Dieses düstere Thema, gewiss autobiografisch grundiert, hat Vanderbeke in ihren stets lakonisch, kompakt formulierten Büchern verschiedentlich variiert – wobei der jüngste Versuch der Fiktionalisierung erlebter Schrecken nun besonders überzeugt.
Im neuen Roman entwickelt die Autorin einen Sog und unverwechselbaren «Sound», der mit schauerlicher Komik den Lesenden an Abgründe führt, die jedes Lachen ersticken, ihm indes zum Schluss einen Hauch Hoffnung belässt, dass das geschundene Geburtstagskind sich dank seiner Phantasie und dank der Literatur aus dem familiären Elend befreien wird.
In die Zukunft geschleudert
Raffiniert und gelungen sind die vielfältigen Sprachregister und die doppelte Erzählperspektive, die Vanderbeke beherrscht: Zum einen erfahren wir aus der Sicht der Siebenjährigen, in kunstvoll überzeichneter Naivität und einem von Magie und Märchen geprägten Tonfall, vom lieblosen Alltag, aber auch von der kaum erträglichen Grausamkeit, mit der das Kind seine Eltern «kennenlernen» muss: der Vater sadistischer Züchtiger, die Mutter feige Zeugin.
Zum anderen erfindet das Mädchen – mit Referenz zu H. G. Wells «Zeitmaschine», vierzig Jahre in die Zukunft geschleudert – eine zweite Erzählstimme. Diese tiefere Stimme der 47-Jährigen berichtet, wie sie sich dank Lektüren und Imaginationen gleichsam am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen vermag.
Schlussfahrt auf Skiern
Phantasie und Literatur führen die kleine Heldin so aus dem dumpfen Elend heraus und erlauben ihr zuletzt während einer rasanten Schussfahrt auf Skiern glaubhaft zu singen: «Ich freue mich, dass ICH geboren bin.»
Birgit Vanderbekes subtil austarierte Komposition zeichnet ein berührendes Kinderschicksal und ein stimmig unerbittliches Porträt der deutschen Nachkriegsjahre vor 1968.