SRF: Frau Pletscher, das Buch «Angeklagt», das neu als Hörbuch erscheint, ist Ihnen gewidmet. Warum?
Marianne Pletscher: Mariella hat Teile des Buches bei mir geschrieben. Wir haben sehr viel über die Hauptfigur, die junge Brandstifterin und Mörderin Kari Selb, geredet. Aber vielleicht hat sie mir das Buch auch gewidmet, weil wir schon vorher so viel zusammen erlebt haben. Im Laufe der Filme, die wir zusammen realisiert haben, bin ich zu einer Gesprächspartnerin von ihr geworden. Zu einer, die nachhakt, nicht nur zuhört.
Wie haben Sie sich kennengelernt?
Wir haben uns vor ziemlich genau 30 Jahren in einer Zürcher Szenebar kennengelernt. Mariella hat mir erzählt, dass sie eine Freundin nach Spanien begleitet, die Stierkämpferin werden will. Ich schloss mich an, weil ich daraus einen Dokumentarfilm machen wollte. Der Film wurde nie fertiggestellt. Aber ich lernte Mariella kennen – und ihre Wut. Kurz nachdem der erste Stierkampf begonnen hatte, stand sie auf und fing an, die Leute zu beschimpfen. Lauthals und leidenschaftlich. Wir mussten ins Auto flüchten und schnell davonfahren.
Mariella Mehr hat eine furchtbare Kindheit hinter sich. Sie ist ein Kind von Jenischen, wurde den Eltern weggenommen. Sie war in vielen verschiedenen Kinder- und Erziehungsheimen, in der Psychiatrie. Später wollte man ihr ihren Sohn wegnehmen.
Man wollte nicht nur. Das Hilfswerk «Kinder der Landstrasse» der Pro Juventute hat es tatsächlich getan. Es ist derart brutal. Sie müssen sich vorstellen, sie wurde als siebenjähriges Mädchen ihren Eltern weggenommen. Sie wurde Elektroschocktherapien unterzogen. Und sie war damit nicht allein, das zeigt auch der Dokfilm «Jenseits der Landstrasse». Viele jenische Kinder sind daran zerbrochen.
Mariella hat das überlebt, indem sie geschrieben hat. Bevor sie Schriftstellerin wurde, war sie eine Kämpferin für die Rechte der Jenischen. Für ihr politisches Engagement hat sie später auch den Ehrendoktor von der Universität Basel erhalten. Letztlich gehört das alles zusammen. Man kann die politische Kämpferin Mariella Mehr nicht von der Schriftstellerin trennen.
Was hat die Hauptfigur in «Angeklagt», die Brandstifterin und Mörderin Kari Selb, mit der Autorin Mariella Mehr zu tun?
Diese schlimmen Gewaltfantasien sind immer Alter-Ego-Geschichten. Viele Figuren von Mariella Mehr erleben Sachen, die sie selbst als Kind erlebt hat. Aber ihre Figuren schlagen zurück, sie töten. Mariella hat mal in einem Interview gesagt: «Wenn ich nicht literarisch töten würde, dann hätte ich in meinem realen Leben töten müssen.»
Aber ihr Werk geht darüber hinaus. Sie gibt misshandelten Frauen eine Stimme, eine heftige Stimme. Das ist – neben der gewaltigen Sprache – die grosse Stärke ihrer Literatur. Sie bringt uns vom persönlichen Schicksal da hin, wo es uns alle etwas angeht.
Mariella Mehr ist letzen Herbst 66 Jahre alt geworden. Hat sie sich mit ihrem Leben versöhnt?
Ich glaube nicht. Ich glaube nicht, dass man sich versöhnen kann. Man kann ein solches Schicksal nur mit Kreativität überwinden und trotzdem ein volles, reiches Leben führen. Das macht sie.