Eine Vorbemerkung: Wenn ich über Bob Dylans Songtexte schreibe, als wären sie Gedichte ohne Musik, verstosse ich gegen eine Grundregel der Literaturkritik. Denn ich beurteile die Texte nach Gesetzen, die nicht die ihren sind.
Es ist ein Experiment – literaturkritisch so fragwürdig wie für manche die Verleihung des Literaturnobelpreises an einen Songwriter. Und letztlich ist es ein persönlicher Blick auf fünf Dylan-Lieder.
Am besten zuerst die Songtexte studieren – dann die Songanalyse lesen.
Song 1: «All Along the Watchtower»
«There must be some way out of here»
«Es muss einen Ausweg geben», sagt der Narr zum Dieb – beides Aussenseiter.
Aber aus was? Aus dem Leben? Der Situation? Dem Kaff? Geschäftsleute trinken dem Narr den Wein aus (warum ausgerechnet Geschäftsleute?), Bauern pflügen ihm seinen Acker um, und keiner von ihnen weiss, was es wert ist (der Wein, die Erde?). Ich verstehe, was mit diesen Bildern gemeint ist, und doch wundere ich mich über sie.
Das Gespräch zwischen Narr und Dieb ist jenseits von Zeit und Raum, wie in einer Fabel. Die letzten vier Zeilen versetzen uns an den Wachturm, genauer: «all along the watchtower», was immer das heissen mag.
Prinzen halten Ausschau, Frauen und barfüssige Diener kommen und gehen. Eine Märchenszenerie? Dazu passen die beiden Reiter in der letzten Zeile sowie der Wind und die Wildkatze in der Ferne.
Ein Stimmungsbild? Schwer zu deuten.
Song 2: «The Times They Are a-Changin'»
Diesen Text finde ich erstaunlich schwach.
«The waters around you have grown»
Kann Wasser wachsen? Ja, und zwar dann, wenn die Zeile sich reimen soll auf «roam» (auch wenn der Reim knirscht) und «bone». Aua.
«Wenn es dir deine Zeit wert ist, gerettet zu werden» – das ist (von mir) schrecklich übersetzt, aber eine bessere Übersetzung würde die Zeile nicht besser machen. Wenn ich also meine Zeit retten will, sollte ich besser anfangen zu schwimmen. Will ich denn nur meine Zeit retten, nicht mich selbst?
«… or you’ll sink like a stone»
(dt. ... oder du sinkst wie ein Stein»)
– Klischee.
Der Song verdankt den Erfolg seinem Titel: Der passt immer, denn die Zeiten ändern sich immer. Was ihn so sexy macht, ist das «a» in «a-changin'».
Song 3: «Like a Rolling Stone»
Formal verfolgt der Song ein konsequentes Schema, die letzten Zeilen jeder Strophe reimen sich, und zwar so:
about / out / loud / proud
compromise / realize / alibis / eyes
diplomat / cat / that / at
amused / used / refuse / lose
meal / deal / steal / conceal
Überdies finden sich Binnenreime und Assonanzen innerhalb der Verse. Manche Reime sind unrein (out / loud, used / refuse), andere erschöpfen sich in der Wiederholung eines Wortteils: amused / used, about / out, that / at, alibis / eyes.
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In der ersten und letzten Strophe findet sich diese Reimform jeweils am Anfang der Reimfolge, in den beiden mittleren Strophen an ihrem Ende. Zufall oder Absicht? Spielt es eine Rolle?
Einige Zeilen des Gedichts sind trivial, zum Beispiel diese hier:
«When you ain't got nothing, you got nothing to lose»
dt. «Wenn Du nichts hast, hast du nichts zu verlieren»
Rollenprosa? Vielleicht. Der Sinn der letzten Zeile (vor dem Refrain) schillert rätselhaft:
«You're invisible now, you got no secrets to conceal.»
dt. «Du bist jetzt unsichtbar, du hast keine Geheimnisse, die du verbergen musst.»
Warum ist man unsichtbar, wenn man keine Geheimnisse zu verbergen hat? Normalerweise sind ja die Geheimnisse unsichtbar, weil verborgen. Die Wörter «invisible», «secrets», «conceal» (dt. unsichtbar, Geheimnisse, verbergen) passen irgendwie zusammen – ein diffuses semantisches Feld.
Song 4: «Visions of Johanna»
Manche Texte versteht man besser, wenn man nicht genau hinschaut. Mir kommt das Gedicht vor wie ein psychedelischer Trip. Der Schauplatz wechselt, ich weiss nie, wo mich das Gedicht haben will.
Zuerst sind wir in einem Raum mit hustenden Heizungsrohren, dann in einem Museum, dann vielleicht in einem Bild? Den Perspektivwechsel kann ich nicht nachvollziehen.
«while my consciousness explodes»
(dt. «während mein Bewusstsein explodiert»)
Ist das der Schlüssel zu diesem delirierenden Song? Was unscharf geschrieben ist, muss unscharf gelesen werden. Ist es deshalb schlechte Literatur? Die Frage ist ernst gemeint.
Song 5: «Simple Twist of Fate»
Der Titel wiederholt sich in diesem traurigen Liebesgedicht am Ende jeder Strophe. Das sieht besser aus, als es ist.
Die Strophe hebt ab – die Frau schaut ihn an, und er fühlt einen Funken in seinen Knochen kribbeln, die Hitze der Nacht erschlägt ihn wie ein Lastzug – doch mit den Worten «a simple twist of fate» schlägt das Gedicht jedes Mal auf dem Boden auf. Aber vielleicht ist gerade dieser Effekt beabsichtigt, denn genau das passiert ja mit den Gefühlen dessen, der uns hier vom Verlassenwerden erzählt?
Elegant finde ich das Spiel mit dem Ich-Erzähler. In der zweiten Strophe gibt er sich zu erkennen: Man denkt, er erzähle die Geschichte von einem anderen. Erst am Schluss offenbart er sich uns als Doppelgänger seiner selbst.
Also liest man das Gedicht noch einmal von vorn.
Das ernüchternde Fazit
Beim stummen Lesen der Texte von Bob Dylan kam es mir vor, als würde ich einem Fisch auf dem Trockenen beim Schwimmen zuschauen. Kann die Literaturkritik diesen Lyrics gerecht werden? Was wären die Kriterien?
«Es kommt vor, dass es einem Dichter gelingt, sich mit Hilfe eines einzigen Worts oder eines einzigen Reims an einen Ort zu versetzen, wo vor ihm noch keiner war», sagte Joseph Brodsky bei seiner Nobelpreisrede 1987. Das habe ich bei keinem der fünf Texte erlebt, vielleicht ereignet es sich nur in Verbindung mit der Musik.
Einer, der das auch in seinen Lyrics konnte und der den Nobelpreis als Dichter fraglos verdient gehabt hätte, war Mani Matter.