Auch für Jurek, den zufriedenen Buben aus Warschau, änderte sich alles im Leben, als die Deutschen in Warschau einmarschierten. Ein erster Zusammenstoss während einer nächtlicher Ausgangssperre hätte fast tödlich geendet. Danach hätte Jurek eigentlich auf das Schlimmste gefasst sein können.
Aber um was für eine Art von Arbeitseinsatz es sich wirklich handelte, als er – ein junger Mann inzwischen – eines Morgens mit anderen in einen Lastwagen verladen wurde, begriff er erst viel später. Die Menschen arbeiteten an diesem Ort in seltsam gestreiften Pyjamas. Und dann wurde der Erste vor seinen Augen erschlagen.
Geschichte in Geschichten
Matthias Nawrat, 36, hat von Auschwitz aus den Erzählungen seines Grossvaters erfahren. Besser gesagt: Oświęcim, wie Auschwitz auf polnisch heisst. Zu jener Zeit war es ein Konzentrations- und noch nicht Vernichtungslager war.
«In meiner Kindheit waren es einfach die Stories meines Opas. Mit ihnen bin ich aufgewachsen, und sie kamen mir ganz normal vor. Erst später, als ich in Deutschland zur Schule ging und den Holocaust durchnahm, habe ich verstanden, wovon uns mein Opa erzählt hatte», sagt er im Gespräch.
Nawrat war 10, als er mit den Eltern 1989 aus Polen nach Deutschland auswanderte. Ungefähr mit 20, sagt Nawrat, habe er gewusst, dass er auch als Schriftsteller an diese Geschichten herangehen wolle.
Wie über Auschwitz sprechen?
Dass er den Roman nun aus der Perspektive zweier Enkel erzählt, hat für ihn, wie er sagt, mit der moralischen Grundproblematik des Schreibens zu tun. «Kann ich über Dinge erzählen, die ich nicht selbst erlebt habe? So tun, als wüsste ich, wie andere fühlen? Es ist das Problem meiner Generation, der dritten Generation nach Auschwitz. Wir kennen nur noch Geschichten.» Nawrat löst das Problem, indem er die Enkel erzählen lässt, was ihnen erzählt worden ist.
Das polnische Schicksal
Nach dem Krieg hatte Opa Jurek Erfolg als Direktor eines Delikatessenladens – bis er zum Opfer einer Intrige wurde. Ohne zu wissen, wie ihm geschah, fand er sich in unterirdischen Verhörräumen und erneut einer «Todesdunkelheit» wieder.
Matthias Nawrats Buch handelt auch von dem, was hinter diesen Grosseltern und Eltern und Onkeln steht: dem knallharten Schicksal des Landes Polen, das für Leute wie Jurek und Zofia eine Diktatur nach der anderen – und ein Leben im dauernden Überlebensmodus bedeutete.
Humor als Schlüssel
Seine Grosseltern, erzählt Matthias Nawrat, seien ausgesprochen positive Menschen gewesen, die optimistisch, ja, locker mit den kleinen Widrigkeiten des Lebens umgehen konnten. Sie waren nicht missmutig, sondern humorvoll – auch wenn ihr Humor nicht über ihre tiefen Beschädigungen hinwegtäuschen konnte.
«Wer den 2. Weltkrieg überlebt hat, dann die zig Jahre kommunistischer Diktatur, schaut anders aufs Leben. Das Erstaunlichste daran ist für mich der Humor, ohne den es vielleicht gar nicht ginge. Der wohl eine Art Überlebensstrategie ist.»
Stilsicheres Tasten und Suchen
Nawrats Erzählstimme ist die eines klugen, aber auch vorsichtigen Kindes, das nicht immer weiss, was es aus diesem geballten Wahnsinn machen soll. In der tastenden Suche nach der Wahrheit und voll der unsentimentalen Zärtlichkeit eines Kindes entsteht ein eigener Ton, eine eigene Stilsicherheit. Mit dieser so noch nicht gehörten Stimme zeigt «Die vielen Tode unseres Opas Jurek» beeindruckend, wie die literarische Zeugenschaft eines Nachgeborenen gelingen kann.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 26.10.2015, 16.20 Uhr