Die Kanadierin Margaret Atwood hat einen schon im Vorwort am Haken – mit ihrer Freude am Frotzeln. Sie beschreibt, wie sie sich dumm stellte, als man ihr eine literarische Autobiografie vorschlug. Solle sie etwa der Reihe nach alle ihre Bücher aufzählen? Als man präzisierte, man denke an eine Autobiografie in einem literarischen Stil, stellte sie sich wieder dumm.
Mit Freude an Ironie und Selbstironie
Welchen Stil man sich vorstelle? Etwa Reimpaare des 18. Jahrhunderts? «Wenn ich bei rosenfingrigem Dunst eile, zum Schreibtisch, zur Arbeit, zur Kunst»? – Ihre Vorzüge als Erzählerin bringt Atwood auch in ihre Memoiren ein. Es sind ihr scharfes Auge für Details, ihr untrügliches Gespür für menschliche Empfindungen und ihre Freude an Ironie und Selbstironie.
Zum Beispiel 2008: Sie liest an einer Uni, schlohweisse Locken, grell pinker Schal. Eine Studentin schreibt nachher in der Campuszeitung: «Margaret Atwood erschien auf der Bühne und sah aus wie ein brennendes Wattestäbchen.» Kommentar Atwood: «Die wird es weit bringen.»
Keine Enthüllungen, aber viel Erkenntnis
In Margaret Atwoods Memoiren gibt es keine Enthüllungen. Als glänzende Essayistin, als eine Frau, die sich zu Wort meldet, machte sie schon immer transparent, was sie bewegte. So weiss man, dass alle ihre Romane, vom Erstling «Die essbare Frau» von 1969 bis zu «Die Zeuginnen» von 2019, auch da, wo sie sich wie Science-Fiction lesen, einen gesellschaftspolitischen und dezidiert feministischen Hintergrund haben.
Man kennt auch Atwoods immense, längst nicht nur literarische Bildung und ihr Interesse an Machtstrukturen, Aberglauben und menschlichen Abgründen. Man weiss, dass sie den grössten Teil ihrer Kindheit in den kanadischen Wäldern verbrachte, weil ihr Vater Insektenforscher war. Und man weiss, dass sie mit dem Ornithologen und Dichter Graeme Gibson und der gemeinsamen Tochter dieses halbnomadische Leben weiterführte. Nur im Detail wusste man es eben nicht.
Lebenslektionen
«Book of Lives. So etwas wie Memoiren» zieht einen in einen Strom hinreissender Geschichten – wie der Vater Insektenforscher wurde, zum Beispiel. Als Kind in Nova Scotia, in äusserst bescheidenen Verhältnissen, entdeckte er eines Tages eine grosse grüne Raupe auf der Strasse. Er nahm sie mit nach Hause, baute ihr einen Käfig, fütterte und beobachtete sie. So fing es an.
Genau hinzuschauen, um zu verstehen – das brachte er der Tochter bei. Diese wiederum ging von früh an eigenwillig und eigenständig ihren Weg und schuf ein gewaltiges Werk von mehr als 50 Büchern, darunter Romane, Erzählungen, Gedichte, Essays, Theaterstücke und Opern-Libretti.
Mit trockenem Humor und verblüffender Präzision zeichnet Margaret Atwood in ihren Memoiren nach, was ihr Leben prägte. Das ist lesenswert genug. Geradezu berührend aber sind die vielen Menschen, die Atwood zu Wort kommen lässt und denen sie so die Referenz erweist. Als ein Beispiel, gegen Schluss des Buches, ihr damals schon dementer Partner Graeme Gibson, der Ornithologe: «‹Ich kenne die Namen der Vögel nicht mehr›, sagte er. ‹Aber sie kennen meinen ja auch nicht.›»