Frisch ab der Highschool direkt ins Arbeitsleben – und dann 20 Jahre lang von einem Niedriglohnjob zum nächsten. Bei kaum einer Stelle hielt er es viel länger als ein Jahr aus. Dann wurden entweder der Frust, die Langeweile oder die Erschöpfung zu gross, und er musste weiterziehen. Hu Anyans Weg durch rund zwei Dutzend mies bezahlte Jobs gleicht einem Spiessrutenlauf. Fast aus jedem Anstellungsverhältnis dokumentiert der chinesische Autor in seinem Memoir anekdotisch Erfahrungen, die er in all seinen Jobs gemacht hat.
Einen grossen Teil des Buches nehmen Hu Anyans Beschreibungen seiner Arbeit für Paketlieferdienste in Peking und anderen chinesischen Grossstädten ein. Seien es die 12-Stunden-Nachtschichten in den grossen Sortierhallen mit Paketen, die zu schwer und zu sperrig für eine einzelne Person sind, oder später die Ausliefertouren mit dem vollgepackten Elektro-Dreirad: Die Zustände, die er beschreibt, wirken geradezu bizarr.
Zeit ist (wenig) Geld
Als Paketkurier steht er unter so grossem Zeit- und Kostendruck, dass er sein ganzes Leben nach der Arbeitszeit auszurichten beginnt. Er rechnet: Wenn er 7000 Yuan im Monat verdienen möchte (das waren 2021 umgerechnet knapp 1000 Franken), müsste er pro Tag bei 9 Stunden Arbeitszeit 4 Franken pro Stunde erwirtschaften. Eine unproduktive Minute kostet ihn ungefähr 6 Rappen – und weil sein Lohn dermassen eng kalkuliert ist, muss er sich tagsüber zwingen, nichts zu trinken, damit er die Anzahl «unproduktiver» Toilettenpausen möglichst tief hält.
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Bild 1 von 4. Die Postfächer sind voll. Seit der Pandemie boomt der Onlinehandel. Bildquelle: Getty Images/VCG.
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Bild 2 von 4. Das Ergebnis: Eine nie enden wollende Flut an Paketen. Bildquelle: Getty Images/Zhang Zhaojiu, VCG.
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Bild 3 von 4. Die Auslieferung stellt die Zusteller auch vor starke körperliche Herausforderungen wie hier in Shanghai. Bildquelle: Getty Images/VCG.
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Bild 4 von 4. Rund 2 Millionen Paketboten soll es in ganz China geben, die nie genau wissen, was sie bei der Auslieferung erwartet. Bildquelle: Getty Images/Raul Ariano/Bloomberg .
Seiner Lieferkundschaft ist Hu Anyan auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Abwesende Empfänger kosten ihn Telefongebühren (die er selbst bezahlen muss) und Wartezeit. Wenn er beispielsweise dem absurden Wunsch eines Kranführers («Er würde gerade hoch oben in der Luft arbeiten und könne nicht runterkommen. Ob ich morgen wiederkommen könne?») nicht nachkommt, drohen sofort Beschwerden – und seine Firma fordert Strafzahlungen ein. Von Kranken- oder Unfallversicherung kann er höchstens träumen.
Paketboten unter der Brücke
Dass Hu Anyan beileibe kein Einzelfall ist, bestätigt SRF-Korrespondent Samuel Emch in Shanghai: «Fürs Stadtbild hier sind die unzähligen Paketboten absolut prägend – es dürften rund 200'000 sein, allein in Shanghai. Landesweit liegt ihre Anzahl wohl im zweistelligen Millionenbereich.»
Es gibt in Shanghai Zeltstädte von Paktetboten, die sich nicht einmal mehr einen Schlafplatz in einem Zimmer mit fünf anderen Personen leisten können.
Daran dürfte es auch liegen, dass Hu Anyans Buch in China so erfolgreich wurde: Es erschien 2023 auf Chinesisch, als die rigorosen Covid-Lockdowns in China noch nicht sehr lange zurücklagen – jene Zeit, in der die sowieso schon boomende Lieferbranche zusätzlich enormen Schub bekam. Entsprechend hohes Identifikationspotenzial hat ein solcher Erfahrungsbericht.
Mit dem Boom sei aber auch ein ruinöser Preiskampf zwischen den einzelnen Anbietern eskaliert, sagt SRF-Korrespondent Samuel Emch: «So eine Lieferung kostet heute fast gar nichts mehr und ist teilweise innert einer Viertelstunde vor Ort.» Den Preis dieser unglaublichen Effizienz gehe zulasten der Paketboten selbst: «Hier in Shanghai gibt es bereits Zeltstädte von Paketzustellern, die sich innerhalb eines vertretbaren Arbeitswegs nicht einmal mehr einen Schlafplatz in einem Zimmer mit fünf anderen Personen leisten können», berichtet Emch.
Selbstgeisselung statt Regierungskritik
Überraschenderweise übt Hu Anyan in seinem Buch nie explizit Kritik an der chinesischen Regierung. Er sieht die Verantwortung für seine desaströsen Arbeitsbedingungen nicht in mangelnder staatlicher Regulierung, sondern direkt bei seinen Arbeitgebern und manchmal sogar bei sich selbst. Immer wieder beschreibt er sich als «naiv», «unreif» oder «begriffsstutzig». Das geborene Opfer für jeden Ausbeuter, sei es eine faule Arbeitskollegin oder ein geldgieriger Arbeitgeber.
Hu entwickelt kaum Aufstiegsträume, sondern scheint sich mit seiner Situation lange Zeit einfach abgefunden zu haben: «Ich war wie eine Zwiebel, die immer eine Zwiebel blieb, egal wie viele Schichten man von ihr abschält, niemals würde darunter das süsse Fruchtfleisch einer Zitrusfrucht zum Vorschein kommen.»
Es gibt eine klare Erwartung, dass wir durch Konsum ein besseres Leben führen können.
Die Zustände in Grossstädten wie Shanghai hätten die chinesische Regierung mittlerweile trotzdem auf den Plan gerufen, sagt China-Korrespondent Samuel Emch: «Die Regierung hat einen Appell an die Lieferdienstleister gerichtet, den Preiskampf zu beenden und die Arbeitsbedingungen der Zusteller zu verbessern.» Die Erfolgsaussichten eines solchen «Appells» ohne verbindliche Massnahmen oder Sanktionen hielten sich allerdings in Grenzen, wie vergleichbare Vorgänge aus der Vergangenheit und aus anderen Branchen zeigten.
Und was ist mit uns?
In der Schweiz gibt es Sofortlieferdienste nach chinesischem Modell erst sehr vereinzelt, wenn man von Essenslieferungen einmal absieht. Doch auch hierzulande gibt es immer wieder Berichte über die prekären Anstellungsbedingungen der Boten, und in Deutschland kam es vor einigen Monaten gar zu einem Streik.
Dass viele Menschen trotzdem weiterhin munter online bestellen, liegt laut dem deutschen Konsum-Soziologen Kai-Uwe Hellmann nicht zuletzt daran, dass Konsum für uns zur «Komfortzone» geworden sei: «Es gibt eine klare Erwartung, dass wir durch Konsum ein besseres Leben führen können und dass wir auch neue Bedürfnisse auf der Basis von Konsum befriedigen können. Unser Kapitalismus funktioniert so.» Dass man jene Rahmenbedingungen nicht stets reflektieren möge, die das eigene Konsumverhalten erst ermöglichen, sei wenig erstaunlich.
Die Situation, die Hu Anyan in seinem Buch schildert, erinnert den Soziologen an die Ausbeutung der englischen Arbeiterschaft im 19. Jahrhundert. Für Kai-Uwe Hellmann ist es eine Art Konstante: «Ich sehe darin ein strukturelles Moment, das nicht einfach so wieder aufhören wird, wenn wir nicht zu einem radikalen Systemwechsel kommen. Dafür gibt es aber im Moment überhaupt keine Anzeichen.»
Es ist unwahrscheinlich, dass Hu Anyans Buch daran etwas ändert. Sein nüchterner (und bisweilen unverhofft komischer) Bericht wirft aber trotzdem ein wichtiges Schlaglicht auf wenig gesehene und gehörte Menschen.