Goethes lebensgefährliche Reise
Der weisse Freitag, das ist der 12. November 1779. Unter lebensgefährlichen Bedingungen überquert Goethe mit seinem Freund und Dienstherrn Carl August von Weimar den Furka-Pass im Gotthard-Gebiet.
Sie sind zu fünft: Goethe, Carl August und drei Begleiter, die gemeinsam im hohen Neuschnee unter schwierigsten Bedingungen den Pass erklimmen wollen. «Eine Situation, die für jeden in jedem Jahrhundert» lebensgefährlich wäre, wie Adolf Muschg kommentiert.
Autobiographische Passagen
Doch Muschgs Erzählung ist weit mehr als die literarische Rekonstruktion eines Abenteuers im Leben des jungen Goethe. Der Schriftsteller verwebt Goethes Reise ins Gotthard-Gebiet mit einem zweiten, autobiographischen Erzählstrang.
Es ist Muschgs persönliche Auseinandersetzung mit der eigenen Lebenswelt – Erinnerungen an seine Familie, den Umzug in einen sehr viel kleineren Teil seines Hauses, persönliche Versäumnisse, den Glauben an Gott, den Stellenwert von Dankbarkeit und Überlegungen zum Zustand unserer Welt generell. Gedanken, die das Altern mit sich bringt.
«Ich muss sterben»
Adolf Muschgs Konfrontation mit der eigenen Vergänglichkeit erhält eine neue Dringlichkeit, als er nach fünf Jahren Ruhe eine erneute Krebs-Diagnose erhält. «Ich muss sterben. An einen medizinischen Befund gebunden ist das ein erschreckender Satz. Ich habe schon vor der Pubertät nichts so gefürchtet wie eine Krebsdiagnose.»
Auch der junge Goethe bricht gewissermassen in die weisse Todeszone auf, um das Schicksal herauszufordern. Er steht in der Blüte seiner Jahre, der «Werther» ist gerade erschienen und ein wahrer Bestseller, er lebt am Hof seines Dienstherrn und Freundes Carl August in Weimar – und weiss nicht so recht, wie weiter im Leben.
237 Jahre später
«Aber da war einer in dieser Gesellschaft, der wollte über den Berg, auch bei Lawinengefahr, wollte nicht Gott versuchen, sondern sein Glück.» Der Ausgang ist bekannt: Goethes zweijährige Reise nach Italien und Werke wie die «Wahlverwandtschaften» könnten wir heute nicht lesen, wenn der Abenteurer die Furka nicht überlebt hätte.
Schliesslich geht der 82-jährige Muschg dem knapp 30-jährigen Goethe buchstäblich entgegen – 237 Jahre später, von der Urner Seite des Passes her. Diese Bergbesteigung rundet die Spiegelung zweier Lebensläufe formal ab.
«Der weisse Freitag» ist ein Buch über das Altern, es ist ein Buch über eine Männer-Freundschaft und nicht zuletzt eine Liebeserklärung an die lebensrettende Kraft der Literatur.