Endo Anaconda, bürgerlich Andreas Flückiger (1955–2022), war Mundartkünstler, Autor, Sänger, Songwriter, Kolumnist – und der Kopf und das Herz der legendären Schweizer Band «Stiller Has».
Dass er ein grosser Dichter war, das wussten seine Leserinnen und Zuhörer schon immer. Die tatsächliche Bedeutung des Dichters, zeigt sich erst jetzt – ausgerechnet durch seine hochdeutschen Gedichte. Es ist der grosse Verdienst des neuen Lyrikbandes «Im Gespinst in dem ich wohne» und derer, die ihn umgesetzt haben: Dramaturg Martin Bieri, Verleger Matthias Burki und Nina Rieben, Künstlerin und Anacondas Tochter.
Die Initiative, Anacondas hochdeutsche Lyrik zu veröffentlichen, geht auf den Verleger Matthias Burki zurück. Der sah 2020 am «woerdz»-Festival in Luzern einen Auftritt Anacondas, der, vom Gitarristen Boris Klečić begleitet, hochdeutsche Gedichte rezitierte.
Fünf Bundesordner voll Lyrik
Halb gesungen, halb gesprochen: der Abend muss dermassen imposant gewesen sein, dass sich Burki entschied, mit Anaconda zusammen einen Gedichtband zu machen. Rasch wurden gemeinsam Gedichte ausgewählt, ein Ablauf besprochen. Doch dann starb Anaconda; das Projekt lag vorerst auf Eis.
Bis Burki einen neuen Anlauf unternahm und sich mit Nina Rieben zusammentat, die mittlerweile im Besitz von Anacondas Nachlass ist. Der besteht zur Hauptsache aus fünf grossen Bundesordnern mit all den Entwürfen, Weiterentwicklungen und fertigen Gedichten, die Anaconda über die Jahrzehnte minutiös gesammelt hat.
Von den 1980er-Jahren bis heute bietet sich hier ein verborgener Schatz: nicht nur für künftige Literaturwissenschaftlerinnen, sondern auch die insgesamt drei Herausgeber des Lyrikbandes.
Der dritte im Bunde ist der Autor und Journalist Martin Bieri. Er hatte die Aufgabe, die Gedichte zu ordnen und in einen Ablauf zu bringen. Er entschied sich für eine Mischung aus biografischem und thematischem Ansatz, etwa dann, wenn er Gedichte aus der Emmentaler Abgeschiedenheit neben Liebesgedichte stellte und dies wiederum neben welche aus der Pandemie.
Inhaltlich unterscheiden sich die Gedichte nur wenig von den Songtexten. Es geht um Liebe und Tod, um die Suche nach einem Ort der Ruhe, ums Emmental und Österreich und um die Sehnsucht nach einer Heimat, die nichts mit Geografie zu tun hat. Formal aber gehen Welten auf.
Texte, die Rhythmus atmen
Auch wenn diese Gedichte immer noch für den Vortrag gedacht sind und Rhythmus und Musikalität atmen, so sind sie freier in der Form und abgründiger in der Aussage. Deutlich treten Vorbilder zutage wie der Wiener Dichter HC Artmann. Der Umstand, dass es sich hier um einen Dichter mit zwei sprachlichen Bezugspunkten handelt, wirkt bereichernd. Nicht von Ungefähr spricht Martin Bieri davon, dass die Schweiz nun einen neuen Lyriker hat.
Ein Buch mit Gedichten von Endo Anaconda wäre aber nicht komplett, wenn es nicht auch eine besondere Ästhetik hätte. Dafür ist wiederum Nina Rieben verantwortlich, die sich als Künstlerin im ästhetischen Bereich mit ihrem Vater eng verbunden fühlte. So ist dieses Buch nicht nur bedeutend, sondern auch schön, wozu vor allem die Abbildungen der handschriftlich geschriebenen Texte beitragen. Ein sorgfältig und unprätentiös gestalteter Band also, der sich mit Anacondas wilden Texten zu einem stimmigen Ganzen vereint.