Zum Inhalt springen

Neuer Roman von Clemens Setz «Monde vor der Landung»: Ein Querdenker zwischen den Weltkriegen

Clemens J. Setz erzählt die tragische Lebensgeschichte eines historischen Querkopfs zu Beginn der Nazizeit in Deutschland.

Peter Bender war einer der Ersten, die die Erdkrümmung mit eigenen Augen beobachten konnten. Im Ersten Weltkrieg sah er sie aus dem Flugzeug.

Trotzdem war der Deutsche felsenfest überzeugt: Die gängige Ansicht der Erde als Kugel im All ist falsch. Bender ist die Hauptfigur in «Monde vor der Landung», dem neuen Roman des österreichischen Schriftstellers Clemens J. Setz.

Im Innern der Kugel

Bender vertritt die Hohlwelttheorie. Laut diesem Gegenentwurf zum heliozentrischen Weltbild ist die Erde eine hohle Kugel. Das, was wir als «Welt» kennen, liegt direkt auf der Innenseite dieser Kugelschale.

Das «Universum» füllt den Raum im Inneren der Schale, ist überall davon umschlossen. Was ausserhalb der Schale liegt, weiss niemand genau – es könnten unendliche Felsmassen sein, oder schlicht gar nichts.

Buchhinweis

Box aufklappen Box zuklappen

Clemens J. Setz: «Monde vor der Landung», 528 Seiten, Suhrkamp Verlag, 2023

So weit, so verquer. Verblüffend an Clemens Setz’ Roman ist, dass es Peter Bender wirklich gab: Er kam 1893 zur Welt, lebte in Worms, meldete sich 1914 freiwillig zum Kriegsdienst im Ersten Weltkrieg und wurde Fliegerleutnant. Er wurde abgeschossen und überlebte den Absturz schwer verwundet. 1917 heiratete er Charlotte, eine Krankenschwester aus dem Lazarett.

Der scheiternde Sektierer

Clemens Setz erzählt Benders Lebensgeschichte anhand von jahrelangen Recherchen in diversen Archiven. Viele Leerstellen blieben trotzdem. Setz hat sie mit Fiktion zur tragisch-grotesken Geschichte eines Scheiternden ergänzt.

Mann mittleren Alters mit Brille und Bart
Legende: Clemens J. Setz, 1982 in Graz geboren, arbeitet heute als Schriftsteller und Übersetzer in Wien. Sein Debütroman «Söhne und Planeten» (2007) schaffte es auf die Shortlist des aspekte-Literaturpreis. Rafaela Pröll/Suhrkamp Verlag

Zurück in Worms gründen Peter Bender und Charlotte eine Familie, und Bender vertieft sich stärker in seine Hohlwelttheorien. Daneben ruft er eine Art Sekte ins Leben, die auf ein neuartiges, polyamores Beziehungsmodell aufbaut. Das klingt für Anfang des 20. Jahrhunderts radikal modern. Es entpuppt sich aber als plumpe Strategie Benders, seine vielen Affären zu rechtfertigen.

Als Verschwörungstheoretiker stösst er in der Gesellschaft auf Widerspruch. Das bestärkt den Querkopf jedoch nur in seinen Ansichten. Mit seinen Vorträgen und Schriften generiert er kaum ein Einkommen. Ihren Lebensunterhalt bestreitet Charlotte als private Sprachlehrerin.

Querdenker in dunkelster Zeit

Ab Ende der 1920er-Jahre breitet sich der Nationalsozialismus in Deutschland aus. Für Benders Familie ein zusätzliches Problem, weil Charlotte aus einer jüdischen Familie stammt. Ihr wird die Arbeit als Lehrerin verunmöglicht. Ihre Kinder dürfen nicht mehr zur Schule, sie werden schikaniert und ausgegrenzt.

Wöchentlich frischer Lesestoff im Literatur-Newsletter

Box aufklappen Box zuklappen

Der Literatur-Newsletter bietet die perfekte Inspiration für das nächste Buch. Ausserdem wird jede Woche eine Schweizer Schriftstellerin oder ein Schweizer Schriftsteller in den Fokus gerückt. Newsletter jetzt abonnieren.

Bender will jedoch nicht emigrieren, auch wenn er zunehmend Kritik an der Naziherrschaft übt. Die Familie wird denunziert und auseinandergerissen. Die Geschichte endet für Bender und Charlotte unabhängig voneinander in KZs, wo sie von den Nazis ermordet werden.

Peter Bender kann man mit Fug und Recht als Querdenker seiner Zeit bezeichnen. Setz erzählt ihn als einen, der nicht aus seinem eigenen Kopf kann und sich und seiner Familie damit endlos Schaden zufügt. Durch die Parallelen zu heutigen Querdenker-Bewegungen gelingt dem Autor ein beeindruckender Spagat zwischen Zeitgeschichte und Gegenwart.

Setz tut dies, ohne Partei zu ergreifen oder sich über Bender und seine Theorien lustig zu machen – sie disqualifizieren sich ohnehin selbst. Stattdessen liefert «Monde vor der Landung» eine neue Perspektive auf eines der dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte und hellsichtigen Aufschluss darüber, wie sich Verschwörungstheorien in uns festsetzen können.

Radio SRF 2 Kultur, Zwei mit Buch, 10.03.23, 18:30 Uhr.

Meistgelesene Artikel