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Neuer Roman von Juli Zeh Letzter Halt Kindheitstrauma

In Juli Zehs neuem Roman «Neujahr» begegnet ein überforderter Familienvater seinen Dämonen – auf einer Fahrradtour.

«Erster-Erster, Erster-Erster, Erster-Erster»: Wie ein Mantra skandiert Henning innerlich diese Begriff und tritt dazu rhythmisch in die Pedale. «Der Wind ist stark und bläst von vorn. Die Strasse steigt an, Henning kommt nur langsam voran.»

Henning, Lektor in einem linkslastigen Sachbuchverlag und Vater zweier kleiner Kinder, verbringt erstmals die Weihnachtsferien mit seiner Familie auf Lanzarote. Die Unterkunft ist bescheiden, das Elternbett nur 1 Meter 40 breit – der Preis aber günstig.

Strampelnde Beine, kriselnde Identität

Nach Silvesterabend ist er früh aus den Federn und nutzt die ruhigen Morgenstunden für sein Hobby: Radfahren. Während er vorwärts strampelt, reisen seine Gedanken rückwärts. Wir ahnen schon, dass er in einer tiefen Identitätskrise steckt und das eigene Leben schönredet.

Buchhinweis

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Juli Zeh: «Neujahr», Luchterhand Literaturverlage 2018.

«Funktionieren» ist sein Lieblingswort: «Schliesslich kommt es im Leben immer und überall darauf an, ob etwas funktioniert, und solange alles funktioniert, muss man eigentlich auch nichts machen.»

Etwas setzt zum Sprung an

Raffiniert verbindet Juli Zeh diese anstrengende Radtour mit einer wilden Achterbahnfahrt durch Hennings Leben. Sie zeichnet dabei das typische Porträt eines verunsicherten modernen Mannes. Einer, der es allen recht machen will, und doch, wie er glaubt, nie genügt.

Weitere Romane von Juli Zeh bei SRF Kultur

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«Gefährlich auch der Gedanke an das, was er noch alles tun müsste oder will, mehr Rad fahren, öfter bei seiner Mutter anrufen, mal wieder einen Roman lesen, endlich einmal die überquellende Abstellkammer aufräumen. ES setzt zum Sprung an.»

Es – das Gespenst in seiner Seele, das in letzter Zeit immer häufiger «zum Sprung ansetzt». Erst langsam begreifen wir, dass in Hennings Vergangenheit etwas Traumatisches geschehen sein muss, das ihn zunehmend blockiert.

Dämonen der Kindheit

Ein unglücklicher Zwischenfall auf diesem Inselausflug lässt dann auch die Dämonen der Kindheit plötzlich, mit aller Wucht, aus ihren dunklen Winkeln hervorbrechen.

Genau darin besteht die Qualität dieses neuen Romans von Juli Zeh: Dass sie die Thematik eines frühkindlichen Schlüsselerlebnisses nicht missbraucht um der süffigen Story willen, sondern tatsächlich Einblick und Einsicht ermöglicht.

Lektüre mit Sogwirkung

Dies gelingt ihr vor allem dank der Struktur ihrer Geschichte, der streng subjektiven Perspektive des Erzählers und der bildhaften, atmosphärischen Sprache.

Subtil passt sie die Worte der Situation an, wechselt Tempo und Rhythmus, springt zwischen gestern und heute und entwickelt so einen Sog, dem man sich kaum entziehen kann.

Mit «Neujahr» erbringt Juli Zeh den Beweis, dass sich gute Unterhaltung problemlos mit inhaltlichem Tiefgang und literarischer Qualität verbinden lässt. So ist dieser Psychothriller auf dem besten Weg, ein Bestseller zu werden.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur aktuell, 10.9.18, 17.10 Uhr

Sendehinweis

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Vor fünf Jahren sprach Juli Zeh in der «Sternstunde Philosophie» mit Daniel Cohn-Bendit über Freiheit und Demokratie, Menschenrechte und Toleranz – die Sendung kann man sich noch online ansehen.

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