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Didier Eriban: Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben.
Aus Kultur-Aktualität vom 08.03.2024. Bild: Keystone/Caro/Waechter
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Neues Buch von Didier Eribon «Eine Arbeiterin» zieht vom Klassenkampf ins Pflegeheim

Didier Eribon schreibt seine Familiengeschichte weiter: In «Eine Arbeiterin» erinnert sich der französische Schriftsteller an seine Mutter, ihr hartes Leben und die letzten Wochen davon im Pflegeheim. Dabei wirft er die Frage auf: Wieso sind ältere Menschen in unserer Gesellschaft machtlos?

Didier Eribons Buch «Eine Arbeiterin» ist ein Portrait seiner Mutter. Eine Mischung aus autobiografischem Schreiben und wissenschaftlichem Essay. Leichtfüssig, gehaltvoll und fesselnd erzählt.

Ausgangspunkt des Buchs ist der Tod der Mutter, ihr Alter, ihr Sterben. Wie zuvor in seinem Bestseller «Rückkehr nach Reims» (2009) kreist Eribon auch hier immer wieder um die eigene Herkunft.

Ein Arbeiterkind

Didier Eribon ist in den 1950er- und 60er-Jahren als Arbeiterkind in einem Vorort im französischen Reims aufgewachsen. Kunst und Kultur war zu Hause kein Thema. Der Vater war Fabrikarbeiter, die Mutter Putzfrau. Das harte Leben hat die Familie zerrüttet.

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«Rückkehr nach Reims» von Didier Eribon (Suhrkamp)
Aus Literaturclub vom 13.12.2016.
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In «Eine Arbeiterin» erinnert sich Eribon, wie seine Mutter stets abgekämpft war, nie glücklich. Am Anfang des Schuljahres musste sie jeweils einen Kredit aufnehmen, den sie dann abstotterte, um die Kinder für die Schule einzukleiden.

Eribon wollte für sich eine bessere Zukunft. Er studierte und distanzierte sich von der Familie. Heute lebt der erfolgreiche Schriftsteller, Soziologe und Philosoph in Paris.

Alles wird gut?

In «Rückkehr nach Reims» ging Didier Eribon der Frage nach, warum in seiner Familie alle den «Front National» wählten, eine rechtspopulistische Partei. In «Eine Arbeiterin» denkt er nun laut über die Gewalt nach, die alten hilfsbedürftigen Menschen angetan wird, indem man sie gegen ihren Willen in ein Pflegeheim einweist. Als Folge eines ungeschriebenen Gesetzes, eines gesellschaftliches Verdikts.

Ein Mann im schwarzen Hemd, mit grauen Haaren und einer schwarzen Brille schaut in die Kamera.
Legende: Der Schriftsteller und Soziologe Didier Eribon gilt als einer der wichtigsten Intellektuellen Frankreichs. IMAGO/Sven Simon

Begleitet wird die Entscheidung von den üblichen Floskeln: Wir müssen vernünftig sein. Du wirst sehen, alles wird gut werden. «Diese furchtbaren Sätze, mit denen man sich der Macht der Umstände unterwirft, verfolgen mich bis heute», schreibt Eribon.

Das Pflegeheim nicht ertragen

Didier Eribon hat das Buch aus eigener Betroffenheit geschrieben. Seine 87-jährige Mutter ertrug die Platzierung im Pflegeheim nicht und starb innert sieben Wochen.

Eribon schildert, wie es ist, die Mutter abhängig und schwach werden zu sehen. Die Entscheidung, sie gegen ihren Willen eingewiesen zu haben, ihre nächtlichen Klagen und Telefonate, lasten schwer auf ihm.

Zählen Alte nichts?

Die Frage drängt sich beim Lesen auf: Zählen alte Menschen nichts? Warum gibt es da kein «Wir»? Kein Kollektiv, mit dem Alte politisch Druck ausüben können? Warum finden ihre Klagen kein Gehör?

Podcast Literaturclub: Zwei mit Buch

Ein Podcast über Bücher und die Welten, die sie uns eröffnen.

Weitere Audios und Podcasts

Didier Eribon versucht Antworten zu finden. Er überführt seine persönlichen Erfahrungen mit der Mutter in eine Theorie des Alters und stützt sich auf philosophische Schriften ab – etwa Norbert Elias’ Abhandlung «Über die Einsamkeit des Sterbens» und «Das Alter» von Simone de Beauvoir.

Die Lektüre ist ein Muss

Eribon kommt zu dem Schluss: Die Krux des Alters sei, dass man das Alter – die zunehmende Schwäche, den körperlichen und geistigen Abbau – erst dann wahrnehmen könne, wenn man selbst davon betroffen sei.

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Vom lebendigen Umgang mit Sterben und Tod
aus Treffpunkt vom 05.04.2023. Bild: KEYSTONE/Georgios Kefalas
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Dieser Umstand verhindere den öffentlichen Diskurs. Weil die Betroffenen selbst schon zu alt, zu pflegebedürftig seien, um für sich selbst einzustehen. Ein Teufelskreis also, den es zu durchbrechen gelte.

«Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben» ist eines dieser selten klugen Bücher, die aus einer Notwendigkeit heraus entstehen und die gelesen werden müssen.

Buchhinweis

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Didier Eribon: «Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben». Aus dem Französischen übersetzt von Sonja Finck. 240 Seiten. 2024, Suhrkamp Verlag.

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Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Aktualität, 8.3.2024, 17:20 Uhr.

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