Im Frühjahr 1933 plagen Thomas Mann Ängste und Unruhe. Linderung versprach eine eigentümliche Rezeptur: Pfefferminztee mit einer Adalin-Tablette, Phanodorm und ein paar Seiten aus Tolstois «Krieg und Frieden». Seine Mixtur, die heute – mit Ausnahme von Tee und Tolstoi – unter das Betäubungsmittelgesetz fallen würde, nannte er die «Lenzerheide-Mischung».
Die Bündner Berge waren das unverhoffte erste Exil des deutschen Schriftstellers. Als Hitler in Deutschland die Macht ergreift, weilt Mann mit seiner Frau Katia in den Ferien, wo ihn Warnungen erreichten, nicht zurückzukehren. Damit beginnt die Flucht der Familie, die sie über die Schweiz nach Sanary-sur-Mer in Südfrankreich führt.
Eine erlauchte Versammlung
Den folgenden Sommer beleuchtet Florian Illies in seinem Buch. Er zeigt Thomas Mann in einer Phase der Unsicherheit: «In Sanary wusste er weder vor noch zurück», sagt Illies. «Und im Moment, in dem der Vater schwankt, wächst seinen Kindern Energie zu.»
Diese Energie zeigt sich vor allem bei den drei Ältesten: Erika und Klaus gründen die Zeitschrift «Die Sammlung», kämpfen publizistisch gegen das NS-Regime – und betäuben sich nachts mit Drogen. Golo rettet Teile des Familienvermögens und die Tagebücher des Vaters, in der Hoffnung auf Anerkennung. Währenddessen fürchten Thomas und Katia Mann im französischen Idyll den sozialen Abstieg, ohne zu begreifen, dass sie ihre Münchner Villa längst verloren haben.
Illies zeichnet ein Familienporträt voller zerrissener Charaktere. Oder wie Thomas Mann notiert: «Wir sind eine erlauchte Versammlung – aber einen Knacks hat jeder.»
Wie Netflix
Auf Grundlage von Tagebüchern und Memoiren erzählt Illies Anekdoten und Episoden im launigen Plauderton und fügt manches Selbsterdachte hinzu: intime Gedanken, für die es keine Quellen gibt, und erfundene Szenen beim Mittagessen oder am Strand.
Der Kritik an seinem Mix aus Sachbuch und Fiktion begegnet der Autor gelassen: «Ich glaube, nur auf diese Weise sind wir bereit, uns auf Geschichte einzulassen. Das ist letztlich eine filmische Methode, wie wir es heute von Netflix kennen.»
Illies’ literarisches Biopic ist ein Gesellschaftspanorama des Exils: Auch andere schillernde Figuren wie die Schriftsteller Lion Feuchtwanger, Aldous Huxley oder Thomas Manns Bruder Heinrich finden Zuflucht in Sanary. Ihre Affären und Eitelkeiten bieten viel Amüsement, doch die politischen Schatten bleiben spürbar – am eindrücklichsten verkörpert durch Thomas Mann: Zunächst zögerlich im Urteil, hält er den Nationalsozialismus für eine «kurze Verrücktheits-Episode».
1933 kann sich wiederholen
Illies schildert das Jahr 1933 als weltpolitischen Schicksalsmoment und erkennt Parallelen zur Gegenwart: «Es war sehr unheimlich, dass ich diesen schleichenden Prozess einer sterbenden Demokratie in Deutschland beschrieben habe und gleichzeitig das Gefühl hatte, ich bin Zeuge einer sterbenden Demokratie in Amerika.»
Notabene in den USA wurde Thomas Mann später zu einer der klarsten Stimmen des Widerstands. Doch das Buch endet früher: Im September 1933 verlassen die Manns Sanary. Ein letztes Zuhause finden sie nach dem Krieg in der Schweiz. Ob sich Mann auch da noch Ruhe verschaffte mit der «Lenzerheide-Mischung», bleibt offen.