Charles, der engagierte Wissenschaftler, hatte sich sehr auf den baldigen Ruhestand gefreut: endlich wieder mehr Zeit für Gemeinsamkeit mit seiner Frau Maude. Ausgerechnet sie macht ihm aber einen Strich durch die Rechnung.
Ménage à trois
Maude ist ihrer ersten grossen Liebe Silas wieder begegnet. Und will mit ihm alt werden. Aber sie beharrt bei Charles nicht auf Trennung, sondern kommt mit einem unkonventionellen Angebot: «Lass uns zu dritt unter einem Dach leben.»
Ausgerechnet Silas, sein Jugendfreund, dem er vor Jahrzehnten Maude ausgespannt hat, soll nun in ihrer Ehe aufgenommen werden? Charles fällt aus allen Wolken: «Er hatte zu sicher gelebt. Sicherheit hing ihm zum Hals heraus. Doch erst seit sie zerbrochen war. Er lachte. Was war das ehrlich! Was für ein Manöver.»
Vaseline als Schutz
Ulrike Draesner lässt ihren Helden nun ins Wasser gehen. Nicht aus Verzweiflung, sondern als Herausforderung und als Möglichkeit, die Situation zu überdenken.
Charles will den Ärmelkanal durchqueren. Gemäss den traditionellen britischen Regeln: Nur mit Badehose und Badekappe – ohne Flossen und Neopren-Anzug. Als Schutz im 17-Grad-kalten Wasser ist einzig eine Vaseline-Schicht zulässig.
Auch ein Begleitboot muss er buchen. Und er weiss, dass ihn der Schiffsführer ständig im Visier hat. Droht ein Schwimmer schlapp zu machen, wird er sofort aus dem Wasser geholt und unverzüglich nach Dover zurückgebracht.
Zunehmende Erschöpfung
Stundenlang kämpft sich Charles vorwärts: «Er schwamm vor der eigenen Sehnsucht davon und schwamm doch immer tiefer in sie hinein.»
Wir sitzen ihm beim Lesen im Nacken. Wir sehen, wie Farben und Struktur des Meeres sich – je nach Wetter- und Lichtverhältnissen – laufend neu präsentieren. Wir wandern mit Charles’ Gedanken in die Vergangenheit zurück und erleben hautnah, wie sich – durch die zunehmende Erschöpfung – auch Charles’ Wahrnehmung verändert. Er beginnt zu halluzinieren. Traum und Wirklichkeit geraten durcheinander.
Im Kampf mit der Urgewalt
Hier zeigt Ulrike Draesner ihre Stärke: die Art und Weise, wie sie für diese äussere und innere Metamorphose eine Sprache findet, ist hohe literarische Kunst.
Kühn ist auch ihr Spiel mit einem alten Topos: Sie bezieht sich inhaltlich auf Klassiker wie Hemingways «Der alte Mann und das Meer» oder Melvilles «Moby Dick», und interpretiert das Thema neu: Im Kampf mit den Urgewalten der Natur will der Mensch stets seine Überlegenheit demonstrieren.
Auch Charles sucht in seiner Verunsicherung die körperliche Grenzerfahrung. Aber das Abenteuer nimmt für Charles und uns Leserinnen und Leser eine unerwartete Wendung.