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Roman «Kleine Monster» Die «heile Kindheit» ist auch nur ein Mythos

Die Österreicherin Jessica Lind erzählt in ihrem Roman «Kleine Monster» von den dunklen Seiten des Heranwachsens. Das ist erhellend.

Kinder sind unschuldige Wesen und allem Bösen abhold. Zu diesem Eindruck gelangt man etwa beim Blick in einen IKEA-Katalog, Rubrik «Kinderzimmer»: verspieltes Kleinmobiliar, pastellfarbene Tapeten und Teppiche mit lustigen Mustern.

Der Möbelriese inszeniert das Kinderzimmer als «heile Welt» zum Träumen. Passend zur vermeintlich «reinen Seele» der Heranwachsenden.

Projektionen der Erwachsenen

Die Meinung, dass Kinder so seien, hat Tradition: Schon Rousseau im 18. Jahrhundert glaubte, Kinder würden in einem «Naturzustand» leben. Unbelastet von den schädlichen Einflüssen der Zivilisation.

Pauschale Aussagen über die Kindheit haben nichts mit der Realität zu tun.
Autor: Klaus Müller-Wille Nordistik-Professor an der Uni Zürich

Diese Vorstellung beflügelte Generationen von Dichterinnen und Dichtern. Schon Grössen wie Hölderlin verklärten die eigene Kindheit zum «verlorenen Paradies» und schrieben Verse wie «Im Arme der Götter wuchs ich gross».

Von wegen Engel

Wer sich näher mit Kindern beschäftigt, weiss: Kinder sind keineswegs nur Engel. Sie haben – wie die Erwachsenen – unterschiedliche Charaktereigenschaften. Im Guten wie im Bösen.

Frau in gelbem Pullover vor Ziegelwand.
Legende: Behält den Blick fürs Wesentliche: Jessica Lind nimmt in ihrem neuen Buch elterliche Gefühlswelten und Familiendramen ins Visier. Pamela Russmann

Pauschale Aussagen über die Kindheit hätten nichts mit der Realität zu tun, sagt der Nordistik-Professor Klaus Müller-Wille von der Uni Zürich. Er setzt sich wissenschaftlich mit Vorstellungen von Kindheit in der Literatur auseinander. Dort fänden sich bis heute «idealisierte Kindheitsbilder», die in erster Linie «der Imagination der Erwachsenen» entsprängen.

Spiel mit der Angst

Die Kehrseite der Überhöhung ist die Angst vor dem sogenannten «bösen Kind». Auch dieser Topos ist gemäss Klaus Müller-Wille in der Literaturgeschichte stark vertreten. Exemplarisch zeigt er sich etwa in Horrorfilmen wie «Das Omen» aus den 1970er-Jahren: Dort erweist sich ein unschuldig dreinblickendes Kind als die Verkörperung des Bösen schlechthin.

Diese gegensätzlichen Kindheitsbilder sind das Thema im aktuellen Roman «Kleine Monster» der 36-jährigen Autorin Jessica Lind. Es ist der zweite Roman der Österreicherin.

Ein Junge
Legende: Das Kreuz mit der Kindheit – in Szene gesetzt im Horrorfilm «Das Omen» (1976). Imago/Allstar

Darin werden die Eltern eines siebenjährigen Schülers von der Schule informiert, dass der Spross eine sexuelle Grenzüberschreitung begangen habe. Dies verunsichert die Mutter Pia zutiefst. Der Bub ist verstockt. Sagt nichts. Stimmt etwas nicht mit dem Sohn? Trägt er einen Dämon in sich?

Die Erschütterung ist für Pia total, auch als sich klärt, dass es sich beim Vorkommnis um ein harmloses «Doktorspiel» gehandelt hat. In Pia kommen Erinnerungen an die eigene Kindheit hoch. Und die war alles andere als «heil».

Ein Verlust, viele Fragen

Sie war überschattet vom Tod der kleinen Schwester. Die genauen Umstände wurden nie geklärt. Doch Pias Kindheit war ab dem Verlust geprägt von Unausgesprochenem, von Verdächtigungen und von schweren Erziehungsfehlern, mit denen ihre Eltern auf den Todesfall reagierten.

Buchhinweis

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Jessica Lind: «Kleine Monster». Hanser Berlin, 2024.

Das Familienleben geriet zur Hölle. Durch den Vorfall mit Luca kommt Pia – Jahrzehnte später – zur Einsicht, dass sie sich dem tabuisierten Dunkel der eigenen Kindheit stellen muss.

Kinder sind auch nur Menschen

Jessica Linds Roman ist beunruhigend und – weil er mit Elementen des Horrors spielt – suggestiv. Feinsinnig arbeitet die Autorin die psychologischen Mechanismen in Familien heraus und unterläuft die stereotype Vorstellung vom ungetrübten Heil der frühen Lebensjahre.

Jessica Lind zeigt Kinder – wie Erwachsene – als ambivalente Wesen, die von der Umwelt manchmal auch als Mysterien wahrgenommen werden: als Menschen eben.

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