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Roman «Radio Sarajevo» Die Hölle von Sarajevo in den Augen eines Kindes

Tijan Sila hat als Kind die Belagerung Sarajevos erlebt. Erst Jahre später war er in der Lage, die Ereignisse des Kriegs aufzuschreiben.

Dreissig Jahre sind verstrichen, bis es der heute 42-jährige deutsche Autor Tijan Sila wagte, die dunkelsten Jahre seines Lebens literarisch zum Thema zu machen: die Belagerung Sarajevos während des Bosnienkriegs. «Um all dieser Ereignisse aufzuarbeiten», sagt Tijan Sila, «musste ich zuerst stark genug sein.»

Der Autor ist 1981 in Sarajevo geboren. Dort erlebte er im Frühjahr 1992 als Elfjähriger, wie bosnisch-serbische Truppen und Teile der jugoslawischen Volksarmee einen Belagerungsring um die bosnische Hauptstadt zogen: der Auftakt zu einer Blockade, die knapp vier Jahre dauerte.

Menschen auf einem Trottoir ducken sich. Links im Bild ein Mann, der ein Kind im Arm hält.
Legende: Foto vom April 1993: Ein bosnischer Mann sucht mit seinem Kind Schutz vor Scharfschützen. KEYSTONE / AP / MICHAEL STRAVATO

In der Stadt waren gegen 400'000 Menschen. Tijan Sila lebte mit seiner Familie in einer beengenden Zweizimmerwohnung in einer Plattenbauwohnung im Westen Sarajevos.

Leben in der Blockade

Das Grauen war allgegenwärtig: kein Strom, keine Heizung, Hunger, mangelnde medizinische Versorgung, der ununterbrochene Beschuss der Stadt durch Scharfschützen und Artillerie. In Sarajevo starben über 11'000 Menschen.

1994 gelang der Familie die Flucht nach Deutschland. Tijan Sila besuchte das Gymnasium, studierte, wurde Berufsschullehrer und lebt heute mit seiner Familie in Kaiserslautern. «Radio Sarajevo» ist Tijan Silas vierter Roman. Darin schildert er durch die Augen des Kindes, das er einmal war, den Horror, den er selbst miterlebt hat.

Das Trauma verdrängen

«Lange Zeit hatte ich Angst, das alles aufzuschreiben», sagt Sila. Als er schliesslich mit der Niederschrift begann, seien die Erinnerungen regelrecht aus ihm herausgeflossen.

Ein Mann mit kurzen braunen Haaren sitzt auf einer Couch, seine Hände verschränkt
Legende: Als im April 1992 der Krieg begann, war Tijan Sila zehn Jahre alt. Nun beschreibt er das Leben im belagerten Sarajevo in seinem Buch. Christian Werner

Noch wenige Jahre zuvor wäre dieses Buch kaum möglich gewesen: Tijan Sila hatte die Hölle verdrängt. In seinem Roman schildert er, dass er schon kurz nach Kriegsbeginn aufgehört habe zu weinen. Und dass er «für die nächsten 15 Jahre … keine einzige Träne» vergoss. Auch als er längst im sicheren Deutschland war, sei er «besessen» gewesen, seine «Gefühle zu kontrollieren».

Dieser Akt der Selbstbeherrschung habe ihm eine seltsame Lust bereitet. Er habe, erinnert sich Sila, «den ganzen Tag Sport, insbesondere Kampfsport» getrieben. Und sich den Gedanken an den Krieg verboten.

Die Befreiung

Erst Jahre später seien die Emotionen plötzlich aus ihm herausgebrochen. Aus einem nichtigen Anlass während des Studiums: «Die Tränen flossen wie Wasserfälle», erinnert sich Sila. «Mein Panzer bekam erste Risse» – bis er nach und nach ganz abfiel «wie ein Stück tote Haut».

Buchkritik «Radio Sarajevo»

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Tijan Silas autofiktionaler Roman zeichnet sich dadurch aus, dass ein Überlebender der Hölle im eingekesselten Sarajevo erzählt. Stets darum bemüht, das Grauen weder zu beschönigen noch zu dramatisieren.

Aus radikal subjektiver Perspektive berichtet der kindliche Erzähler vom Raketenbeschuss, von zerstörten Häusern, vom Tauschhandel, von der Anarchie in den Strassen, vom allgegenwärtigen Tod.

Aber auch vom kleinen Transistorradio, auf dem die Jugendlichen Musik hören und der ihnen erlaubt, dem Grauen zwischenzeitlich entrinnen zu können. Sprachlich nimmt Tijan Sila die Kindlichkeit des Protagonisten kunstvoll auf, ohne sie zu imitieren.

Bei aller gelungenen Subjektivität und dadurch erzeugten Empathie mit den Opfern hätte man sich beim Lesen etwas mehr historisch-politischen Hintergrund gewünscht.

Gerade das jüngere Lesepublikum, das die Jugoslawienkriege nicht selbst miterlebt hat, wäre dafür wohl dankbar gewesen.

Auf die Frage, was denn sein stärkstes Bild der Zeit im belagerten Sarajevo sei, sagt Tijan Sila: «Die völlige Finsternis in der Nacht, die Stadt war vom Strom abgeschnitten. Die einzigen Leuchtpunkte waren brennende Mülltonnen und die Leuchtspurmunition am Himmel.»

Drei Kinder spielen in einem Bus, der auf die Seite gekippt und zerstört ist.
Legende: Kinder inmitten der Kriegshölle, 1996. Bosnische Kinder spielen im Vorort Dobrinja von Sarajevo in einem zerstörten Bus. AP / DARKO BANDIC

Details wie diese bestimmten die Wahrnehmung des Knaben inmitten der Kriegshölle. Und sie kennzeichnen auch das Buch «Radio Sarajevo»: Es bietet keine historisch umfassende Darstellung der Belagerung. Und es verzichtet darauf, die damaligen Täter auf der serbischen Seite anzuklagen.

Buchhinweis

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Tijan Sila: «Radio Sarajevo». Hanser Berlin, 2023.

Es schildert aus der Sicht eines unschuldigen Opfers, was ihm der Krieg antut. Seine Hoffnung, sagt Tijan Sila, sei es, Mitgefühl zu wecken, «und zwar nicht mit mir als einzelnem Kind, sondern mit mir als einem von Millionen von Kindern, die im Krieg waren». Und die es jetzt sind, am heutigen Tag.

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