Es gibt Filme, die können ein Leben verändern. Als Amsél 1991 den Film «Himmel über der Wüste» («Sheltering Sky») sah, Bertoluccis Adaption des berühmten Romans von Paul Bowles – war es um sie geschehen. Diesen verführerischen, Schauplatz Tanger musste sie persönlich kennenlernen. Sie wurde nicht enttäuscht.
Die weisse Hafenstadt am Mittelmeer, die seit Jahrzehnten Künstlerinnen und Künstler aus der ganzen Welt anzieht, eroberte sofort ihr Herz. Die Liebe dauert bis heute. Längst ist Tanger – neben Zürich – ihre Heimat geworden.
«Es heisst, Tanger sei wie ein Spiegel. Wer sich darin erblickt und nicht aushält, was er sieht, muss unverzüglich abreisen», schreibt Amsél. «Wer es aber schafft, zu ertragen, was der Spiegel ihm zeigt, der muss immer wieder zurückkehren, den lässt die Stadt nicht mehr los.»
Intensität, die einen um den Verstand bringt
Das Licht, die Menschen, die Szenerie, alles sei von einer solchen Intensität, die einen um den Verstand bringen könne, sagt Amsél. Und es brauche auch eine dicke Haut, die grossen Gegensätze auszuhalten. «Unermüdlich streiften Tod und Leben als Liebespaar durch die Strassen dieser Stadt.»
Die inneren Programme überwinden
«Wiedersehen in Tanger» erzählt die Geschichten von drei Menschen: Tahir aus Marokko, Chaya aus der Schweiz und Thelma aus den USA. Die drei lernen sich auf einem Kongress kennen. Und entdecken sofort eine Seelenverwandtschaft.
Als sie sich später treffen, entwickelt sich eine nicht ungefährliche Dreiecksbeziehung. Chaya, die eine Affäre mit Tahir begonnen hat, schlägt ihrer amerikanischen Freundin vor, den begehrten Liebhaber mit ihr zu teilen.
Thelma ist schockiert, das liege nicht in der menschlichen Natur, wehrt sie die kühne Idee ihrer Freundin ab. Doch Chaya ist überzeugt: «Es muss doch eine Möglichkeit geben, diese angeborenen inneren Programme zu überwinden.»
Haltungen prallen aufeinander
Mit viel psychologischem Gespür beschreibt Amsél dieses heikle Beziehungsexperiment und zeigt auf, wie die unterschiedlichsten Kulturen und Lebenshaltungen aufeinanderprallen
Hier die nüchterne Wissenschaftlerin Chaya, die den Fakten vertraut, dort die spirituelle Dokumentarfilmerin Thelma, die von der amerikanischen New-Age-Bewegung beeinflusst ist. Mittendrin der marokkanische Intellektuelle Tahir, der sich in keine Schublade zwängen lässt.
Paul Bowles als Vorbild
Mit der Geschichte einer komplizierten Liebe knüpft die Zürcherin an jenen Roman an, der sie seinerzeit nach Marokko gelotst hat: «Himmel über der Wüste» von Paul Bowles. Auch da wird ein Dreiecksverhältnis gezeigt. Allerdings war es Amsél wichtig, die Konstellation neu zu definieren.
Bei ihr sind es zwei Frauen, die denselben Mann begehren. Bei Bowles steht eine Frau zwischen zwei Männern. Hier wie dort führt eine gemeinsame Reise in die Wüste. In beiden Büchern endet sie dramatisch.
Heimat für schräge Vögel
«Wiedersehen in Tanger» lässt sich auch als Liebeserklärung lesen. An eine Stadt, die seit Jahrzehnten «schrägen Vögeln» – wie Amsél es nennt – eine Heimat bietet. Es gelingt ihr, das besondere Licht und die raue Landschaft in Worte zu fassen und im Kopf des Publikums Bilder auszulösen.
So wird den Leserinnen und Lesern auch klar, was Thelma meint, wenn sie mit Chaya am Hafen aufs Meer hinaus schaut: «Weisst Du, manchmal spüre ich Heimweh nach einem Ort, des es nicht gibt; doch bei einem Anblick wie diesem meine ich plötzlich, angekommen zu sein.»
Amsél ist in Tanger schon längst angekommen.
Sendung: Radio SRF 1, BuchZeichen, 28.05.2017, 14.00 Uhr