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Roman «Wovon wir träumen» Bin ich wie meine Mutter – oder ein ganz anderer Mensch?

Der Debütroman «Wovon wir träumen» der deutschen Autorin Lin Hierse ist eine Geschichte über das Loslassen und Dazugehören: Ein Buch über Herkunft und Identität – zwischen den Kulturen und den Generationen. Was fasziniert die Autorin an der Frage, ob man überhaupt ein eigenständiges Leben leben kann?

Eine Mutter-Tochter-Beziehung als Resonanzraum für die grossen Fragen: Die 32-jährige Lin Hierse setzt dabei auf Behutsamkeit und Präzision.

Lin Hierse

Autorin

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Lin Hierse wurde 1990 in Braunschweig geboren und studierte Asienwissenschaften und Humangeographie. Seit 2019 arbeitet sie bei der Zeitung «TAZ» und hat dort mit «poetical correctness» eine eigene Kolumne. «Wovon wir träumen» ist ihr erster Roman.

SRF: «Wovon wir träumen» kommt ohne grosse Dramen aus. Dadurch werden die vielen Facetten einer Mutter-Tochter-Beziehung umso deutlicher: Es geht um Nähe, Distanz, Zugehörigkeit, Abgrenzung und grundsätzlich um Herkunft. Welche Facette hat Sie beim Schreiben am meisten beschäftigt?  

Lin Hierse: Ich weiss gar nicht, ob ich das hierarchisieren kann. Ich merkte beim Schreiben, dass eine Facette zur nächsten führt und dass sie alle miteinander verbunden sind.

Ich würde aber sagen, dass die gegenseitige Abhängigkeit von Mutter und Tochter eine Facette ist, die mir beim Schreiben immer wieder begegnete: das Gefühl von Verbundenheit und gleichzeitig das Streben danach, ein ganz anderer, eigenständiger Mensch zu sein. Die Tochter möchte sich auf eine Art von der Mutter emanzipieren, merkt aber, dass sie immer wieder an ihre Grenzen stösst. 

«Wovon wir träumen» ist ein faszinierendes Buch

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«Es ist anstrengend, eine Mutter zu haben. Eine Mutter, die sich nicht nur in die Gedanken, sondern auch in den Körper ihrer Tochter hineinschreibt.» Trotzdem erlebt die Ich-Erzählerin in Lin Hierses Roman-Debüt «Wovon wir träumen» die Gemeinsamkeiten mit der Mutter intensiver als das Trennende.

Aus den federleichten Szenen einer symbiotischen Mutter-Tochter-Beziehung entstehen grosse Fragen: Wer bin ich? Wo komme ich her? Wo gehöre ich hin? Und lebe ich wirklich meine eigenen Träume?

Einfache Antworten gibt es nicht. Allein schon, weil die Mutter als Chinesin in Deutschland nicht den erhofften Platz fand. Ein faszinierendes Buch über eine prägende Beziehung.

Das Verhältnis zwischen den beiden ist auch geprägt davon, dass die Mutter aus China stammt, in Deutschland aber beruflich nicht Fuss fassen konnte. Sie schreiben: «Da wurde sie meine Mutter und legte alles, was sie hatte, in mich und um mich herum.» Wie geht die Tochter damit um?

Die Beziehung ist sehr nah, die Mutter ist in Deutschland in Alltagsdingen auch immer wieder auf die Tochter angewiesen. Zudem kennt die Tochter – wie viele Kinder von Migrantinnen und Migranten – das Gefühl, die unerfüllten Hoffnungen und Wünsche, in ihrem Fall jene der Mutter, in sich zu tragen.

Sie hatte sich angestrengt, den Erwartungen gerecht zu werden und hatte es offenbar nicht geschafft.

Oft ist das ein sehr subtiles Gefühl. Es tritt erst so richtig zutage, wenn man sich länger mit der Beziehung zu den Eltern und dem, was ihre unerfüllten Wünsche eigentlich mit einem machen, auseinandersetzt.

Die Herkunft der Mutter hat einen grossen Platz im Roman. Die Mutter wirft der Tochter einmal vor, keine richtige Chinesin zu sein. Warum kommt das so schlecht an?

Die Tochter versuchte ein Leben lang, einen Balanceakt zwischen den Familien in China und Deutschland zu schaffen. Sie versucht, ihre Rolle in der chinesischen Grossfamilie zu finden und in Deutschland ein ganz anderes Leben zu leben. Sie hatte sich angestrengt, den Erwartungen gerecht zu werden und hatte es offenbar nicht geschafft.

Es geht um die Frage, ob wir überhaupt eigenständige Leben leben können, ohne die, die vor uns gewesen sind.

Gleichzeitig ist das Urteil aus dem Mund der Mutter natürlich auch ein Ausschluss. Das kennen wir alle. Das fängt schon auf dem Schulhof an. Wenn man von etwas ausgeschlossen und nicht als Teil von etwas gesehen wird, dann tut das immer weh.

Gleichzeitig ist die Beziehung sehr symbiotisch. Die Tochter fühlt sich nicht nur im Denken, sondern auch körperlich geprägt von der Mutter. Was heisst das für Sie?

Es geht um die Frage, ob wir überhaupt eigenständige Leben leben können, ohne die, die vor uns gewesen sind. Die Erzählerin stellt sich diese Frage zum Beispiel, wenn ihr Bezüge zum Körper der Mutter auffallen – dieselben Schwindelanfälle oder Muttermale.

Bin ich in vielen Teilen wie meine Mutter – oder bin ich ein ganz anderer Mensch? Wie kann ich mich verhandeln, auch körperlich, als Person ausserhalb der Mutter? Brauche ich dafür physische und geistige Distanz? Muss ich mich abkoppeln von der Mutter? Das sind Fragen, die die Erzählerin immer wieder verfolgen. 

Das Gespräch führte Franziska Hirsbrunner.

Buchhinweis:

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Lin Hierse: «Wovon wir träumen». Piper, 2022.

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