Letzten Herbst erhielt sie den Schweizer Buchpreis für ihren dystopischen Roman «GRM Brainfuck». Nun vergibt das Bundesamt für Kultur den jährlichen «Grand Prix Literatur» an Sibylle Berg für ihr Gesamtwerk. Die Jury würdigt die Autorin «als innovative, engagierte und bedeutende Stimme der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur».
Überraschender Entscheid
Für eine Autorin, die von Kritikern als «erbarmungsloseste deutsche Schriftstellerin» bezeichnet wurde, ist das eine reichlich blasse Preisbegründung. Der Entscheid der Jury bleibt trotzdem mutig und überraschend.
Überraschend deshalb, weil Sibylle Berg so gar nicht in die Reihe der bisherigen PreisträgerInnen passt: Paul Nizon (2014), Adolf Muschg (2015), Anna Felder (2018) oder Zsuzsanna Gahse (2019) darf man als sogenannt «verdiente» AutorInnen bezeichnen mit breitem Lebenswerk.
Ein Klaus Merz oder ein Thomas Hürlimann hätten diese Reihe nahtloser weitergeführt als Sibylle Berg – auch wenn sie sich mit 14 Romanen, 25 Theaterstücken und ungezählten Essays, Kolumnen und Zeitungsartikeln ein beachtliches Gesamtwerk erschrieben hat.
Eine völlig Unangepasste
Mutig ist der Entscheid deshalb, weil die Jury damit eine völlig Unangepasste, eine Querschlägerin ehrt. Sibylle Bergs literarisches Mittel ist die Provokation, die groteske Überspitzung, der Zynismus. Keine Situation in ihren Romanen ist fertig erzählt, bevor sie nicht die schlechtestmögliche Wendung genommen hat.
Nicht zufällig wurde sie als «Antwort der deutschen Literatur auf Michel Houellebecq» bezeichnet. Schon in ihrem Erstling «Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot» von 1997 versinken die ProtagonistInnen in Gewalt, Verwahrlosung und Hoffnungslosigkeit. Richtig an die Nerven geht der Umgang ihrer Figuren miteinander.
Nichts scheint mehr heilig. Sexuelle Ausbeutung von Kindern oder unmotivierte Gewaltausbrüche gehören zum Alltag. Der Grundton ist geprägt von Brachial-, Fäkal- und Sexualsprache. Erträglich wird das alles dank Bergs grimmigem Humor, ihrem Gespür für wirksame Effekte und einem Ohr für satte Dialoge.
Schärfste Gesellschaftskritik
Vor allem aber ist die Boshaftigkeit kein Selbstzweck. Dahinter steckt schärfste Gesellschaftskritik. Über «GRM Brainfuck» sagt Sibylle Berg: «Es ist gerade die Zeit, wo Kräfte mit den Mitteln der Demokratie versuchen, die Demokratie abzuschaffen – weil sie hinderlich ist beim Geldverdienen.»
Alle Krisenthemen der Gegenwart kommen hier zusammen: Die Folgen des Turbokapitalismus, der Klimawandel, der Überwachungsstaat. Am Beispiel von England wird bis auf den letzten Blutstropfen durchexerziert, was passiert, wenn die soziale Schere sich weiter öffnet, die Mittelschicht verarmt und immer mehr Menschen aus dem System fallen.
Ihre Romane haben Follower oder Hasser
Von politischer Korrektheit hält die Autorin offensichtlich nichts. Männer zum Beispiel gibt es nur in der toxischen Variante, als Widerlinge. Keine Gnade für keinen, am wenigsten für den Leser und die Leserin. Wenig verwunderlich, dass Sibylle Berg polarisiert.
Ihre Romane provozieren bitterböse Verrisse ebenso wie Lobeshymnen. Sie zwingt die Lesenden, zu Followern oder Hassern zu werden. Ein sicheres Zeichen dafür, dass sie den Nerv der Zeit trifft. Insofern ist sie auf jeden Fall eine würdige Empfängerin des Schweizer Grand Prix Literatur.
Der Schweizer Grand Prix Literatur 2020 geht an Sibylle Berg für ihr Gesamtwerk. Mit dem Spezialpreis Übersetzung wird Marion Graf für ihre Übersetzungen aus dem Deutschen und Russischen ins Französische ausgezeichnet.
Gleichzeitig werden die Schweizer Literaturpreise für im vergangenen Jahr erschienene literarische Werke vergeben (siehe Tabelle unten). Die Preisverleihung findet am 13. Februar 2020 in Anwesenheit von Bundesrat Alain Berset in der Schweizerischen Nationalbibliothek in Bern statt.
Schweizer Literaturpreise 2020
Flurina Badel | tinnitus tropic, poesias (editionmevinapuorger) |
François Debluë | La seconde mort de Lazare (Editions l’Age d’Homm) |
Doris Femminis | Fuori per sempre (Marcos Y Marcos) |
Christoph Geiser | Verfehlte Orte. Erzählungen (Secession Verlag für Literatur) |
Pascal Janovjak | Le Zoo de Rome (Actes sud) |
Noëmi Lerch | Willkommen im Tal der Tränen (Verlag die Brotsuppe) |
Demian Lienhard | Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat (Frankfurter Verlagsanstalt) |
Sendung: Nachrichten, Radio SRF 2 Kultur, 14.01.2020, 10.00 Uhr