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Tessin-Roman von 1945 «Dorf an der Grenze»: Solidarität? Nur, wenn es nichts kostet

Die Autorin Aline Valangin erlebte hautnah mit, was der Zweite Weltkrieg mit einem Tessiner Dorf machte. Ihr Roman darüber ist eine literarische Wiederentdeckung.

Comologno im hintersten Onsernone-Tal war so arm, dass selbst der Kirchturm davon zeugte: «Dem Dorf schlägt keine Stunde. Seit Jahren geht die Kirchenuhr nicht mehr. Ihre Zeiger sind abgebrochen. Nutzlos liegt der Kranz der Ziffern um die leere Scheibe. Die Zeit steht hier still.»

Aline Valangin notiert in ihrem zweiten, um 1945 geschriebenen Roman «Dorf an der Grenze» akribisch, wie ein abgelegenes Dorf an der Grenze zu Italien den Zweiten Weltkrieg durchlebt. Das Dorf ist fiktiv und gleichzeitig hyperreal, ein Hallraum allgemeiner gesellschaftlicher und moralischer Strukturen.

Eine facettenreiche Frau

Aline Valangin war die Enkelin des einzigen Schweizer Friedensnobelpreisträgers Élie Ducommun. Ihr Grossvater prägte sie tief. Valangin war perfekt dreisprachig – in Vevey geboren, in Bern aufgewachsen. In Zürich wurde ihr Salon Zentrum der Kulturszene der 1920er-Jahre. Später wurde sie im Tessiner Dorf Comologno zur Herbergsmutter für exilierte Künstlerinnen und Künstler aus ganz Europa.

schwarzweiss-Aufnahme, leicht verpixelt, junge Frau mit dunklem Dutt, dunkle Augen. Schaut versonnen in Kamera.
Legende: Aline Valangin war ein Multitalent. Zum Schreiben kam sie erst spät. Limmat Verlag

Sie war Pianistin, Psychoanalytikerin, Bohemienne und wurde erst mit über fünfzig Schriftstellerin. Sie verkehrte mit Dadaisten, dem Kreis um Max Bill und war geschätzte Gesprächspartnerin von James Joyce.

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So abgelegen das Dorf an der schweizerisch-italienischen Grenze sein mag, der Krieg erreicht es doch. Die Männer werden zum Aktivdienst eingezogen.

Menschen, die über die Berge vor den deutschen und italienischen Faschisten fliehen, bitten verzweifelt um Aufnahme. Schmuggler nisten sich ein. Während die Flüchtlinge umstandslos an die Grenze zurückbefördert werden (Befehl aus Bern), sind die Schmuggler mit ihrem Reis durchaus willkommen.

Ein Reisefieber bricht aus. Die Dorfbewohner verkaufen das kostbare Gut heimlich weiter. Plötzlich ist Geld da. Die Schmuggler nehmen Bestellungen entgegen, bringen immer kostbarere Güter, und keiner fragt, woher sie sie haben. Das schlechte Gewissen kommt spät – zu spät.

Aline Valangin: «Dorf an der Grenze». Limmat Verlag, 2023.

Valangin machte eine Lehranalyse bei C. G. Jung und hatte eine Affäre nach der anderen, meist mit berühmten Männern wie Ignazio Silone oder Kurt Tucholsky. Darin stand sie ihrem Mann, dem russisch-jüdischen Staranwalt Wladimir Rosenbaum, in nichts nach. Als die beiden 1917 heirateten, vereinbarten sie eine offene Ehe.

Blick fürs grosse Ganze

Aline Valangin hätte Stoff für mehrere Schlüsselromane gehabt. Aber als sie in Comologno zu schreiben begann, fokussierte sie sich auf die Menschen im Dorf und nicht auf die Kunstschaffenden, denen sie in ihrem Palazzo eine Heimat auf Zeit bot.

Für den Historiker Peter Kamber, der eine fulminante Doppelbiografie über Aline Valangin und Wladimir Rosenbaum schrieb, ist sie mit ihrem Roman «Dorf an der Grenze» eine veritable Dorfsoziologin. Es ist erstaunlich, wie Valangin mit ihrem Material umging: Sie schrieb fast in Echtzeit und hatte trotzdem einen schier perfekten Blick für grössere Zusammenhänge.

Doppelbiografie über Aline Valangin und Wladimir Rosenbaum

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Auf den ersten Blick mag eine Doppelbiografie erstaunen, aber Aline Valangin und Wladimir Rosenbaum gehörten auch dann noch zusammen, als ihre Wege sich längst getrennt hatten: in Ascona liegen sie in derselben Grabstätte.

Die 1889 in Vevey geborene Pianistin, Psychoanalytikerin und Schriftstellerin und der 1894 in Minsk geborene Staranwalt waren beide glänzende Schreibende. In Notaten, Tagebüchern und Memoiren reflektierten sie ihr bewegtes Leben in den angesagten gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Zirkeln ihrer Zeit.

Der Historiker Peter Kamber hat dieses Material geborgen und brillant mit Zeitgeschichte verknüpft. Eine erhellende Chronik, die sich liest wie ein Roman.

Peter Kamber: «Geschichte zweier Leben. Wladimir Rosenbaum & Aline Valangin». Limmat Verlag, 2018.

Die Schweiz als Puppenstube

Erstmals erlebte sie den Faschismus hautnah, als sie ihren Mann 1933 an einen Prozess in Vaduz begleitete. Peter Kamber: «Damals sah sie zum ersten Mal richtige Nazis. Ihr wurde angst und bange und sie sagte, man lebe in Zürich fast noch wie in einer Puppenstube.»

Das Ehepaar erkannte die Zeichen der Zeit. Es betrieb Fluchthilfe, half, jüdischen Besitz zu retten, startete Kampagnen. Aber dann verlor Rosenbaum in einer beispiellosen antisemitischen Hetzkampagne seine berufliche Existenz.

schwarzweiss-Foto eines Bergdorfs, panoramafoto, darüber die Berge, darunter die Wälder.
Legende: Das idyllische Dörfchen im Roman ist ein Zusammenzug mehrerer Dörfer im Onsernone, mindestens Comologno und Spruga, die auf diesem Foto zu sehen sind. ETH

In «Dorf an der Grenze» konzentriert sich Aline Valangin ganz auf die Bewohner eines fiktiven Grenzdorfs im Onsernone-Tal. Dieser Mikrokosmos ist Schweiz als Puppenstube pur. Themen wie Obrigkeitsgläubigkeit, Profitdenken und mangelndes Engagement schälen sich deutlich heraus. Ohne moralischen Zeigefinger erscheint eine verschonte Schweiz, die nur solidarisch ist, wenn es sie nichts kostet.

Da wundert es nicht, dass «Dorf an der Grenze» erst Anfang der 1980er-Jahre publiziert wurde. Nach Kriegsende war Kritik nicht erwünscht. Noch nicht einmal eine so ruhig und menschenfreundlich vorgetragene wie jene in Aline Valangins packendem Roman.

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