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Zum Tod von Eugen Gomringer Der «Vater der konkreten Poesie» war legendär

Eugen Gomringer schrieb Literaturgeschichte – als einer der wenigen Schweizer. Nun ist er im Alter von 100 Jahren verstorben.

Eugen Gomringer gilt als Phänomen. Noch im hohen Alter war er lange Zeit rüstig. Wobei diese Umschreibung nicht recht zu diesem Mann passt – zu bieder, zu brav. Vielmehr schien er bis fast zum Schluss stets in Topform zu sein – geistig und auch körperlich.

Konkrete Kunst wird zur Lyrik

Zu seinem jung gebliebenen Wesen trug der lockere Umgang bei, den er pflegte. Seine Äusserungen hatten oft etwas Spitzbübisches. So konnte er etwa noch als über 90-Jähriger auf die Frage nach seinen Anfängen lapidar antworten: «Als in den 40er-Jahren in der Schweiz die konkrete Kunst aufkam, dachte ich mir: Das musst du in der Poesie auch machen.»

Dann sei er, der schon lange Gedichte geschrieben habe, mit der Idee «zehn Jahre schwanger gegangen». Bis 1953. Damals veröffentlichte Eugen Gomringer eine dreisprachige Gedichtsammlung mit dem Titel «Konstellationen, Constellations, Constelaciones». Sie gilt heute als das erste Werk der konkreten Poesie.

Ein Jahr später erschien in der NZZ das epochale Manifest mit dem Titel «Vom Vers zur Konstellation». In ihm umriss Eugen Gomringer «Zweck und Form einer neuen Dichtung».

Sprache als Thema

Analog zur konkreten Kunst dient in der konkreten Poesie die Sprache nicht mehr der Beschreibung einer Sache oder eines Gefühls. Vielmehr wird sie selbst zum Thema.

Auf einem Blatt wird das Wort «schweigen» in einem Rechteck wiederholt – in der Mitte allerdings fehlt das Wort.
Legende: Eugen Gomringer, «schweigen», 1954. ZVG / EUGEN GOMRINGER

So besteht Eugen Gomringers wohl berühmtestes Gedicht «schweigen» einzig aus 14 identischen Exemplaren des Wortes «schweigen». Sie sind auf dem Papier in einem Rechteck angeordnet, sodass in der Mitte ein weisses Loch entsteht: Das Schweigen wird physisch sichtbar.

Der Reiz des Minimalismus

Eugen Gomringer war ein besonders verspielter Künstler. Fantasiebegabt. Diszipliniert. Und zur äussersten sprachlichen Reduktion und Verdichtung bereit. Genau dieser Minimalismus wurde zu seinem Markenzeichen.

Das bekannte Gedicht «schwiizer» beschränkt sich auf wenige sprachliche Pinselstriche. Sie sind alle ohne Verbindung untereinander auf einzelnen Linien arrangiert, sodass die geschilderte Zurückhaltung und Beziehungsscheue im Wesen der Schweizer Volksseele nicht nur in der Sprache zum Ausdruck kommt, sondern auch im formalen Arrangement der Wörter:

«schwiizer» von Eugen Gomringer

Box aufklappen Box zuklappen

schwiizer

luege

aaluege

zueluege

nöd rede

sicher sii

nu luege

nüd znäch

nu vu wiitem

ruig bliibe

schwiizer sii

schwizer bliibe

nu luege.

.

.

Eugen Gomringer hatte eine ambivalente Beziehung zur Schweiz. Dieses Gedicht kann man in seinem Gesamtwerkband «Vom Rand nach innen: Die Konstellationen» finden.

Mit Texten wie diesen verstand es Eugen Gomringer, sein Publikum zu fesseln. Längst nicht alle Zeitgenossen verstanden jedoch diese Art Literatur. Von «Silbenschutt» war da die Rede. Oder gar von «galoppierender Magersucht».

Lateinamerikanische Wurzeln

Geboren wurde der Dichter 1925 in Bolivien, als Sohn eines Schweizer Kaufmanns und einer Bolivianerin. Die Kindheit verbrachte er der besseren Bildungschancen wegen bei den Grosseltern in Zürich. Nach dem Zweiten Weltkrieg studierte er Nationalökonomie und Kunstgeschichte.

Ein älterer Mann spricht ins Mikrofon und zeigt das Titelblatt seines Gedichtbands.
Legende: 2007 las Gomringer in der Literaturwerkstatt Berlin aus seiner ersten Gedichtsammlung «Konstellationen, Constellations, Constelaciones» vor. Während seiner Karriere kehrte er mehrmals in das heutige Haus für Poesie zurück – in 2007 auch mit seiner Tochter Nora. IMAGO / Mike Schmidt

Sein grosses Idol war der Schweizer Künstler Max Bill. Von 1954 bis 1957 arbeitete Gomringer als dessen Sekretär an der Hochschule für Gestaltung in Ulm.

Allerdings blieb Eugen Gomringers Verhältnis zur Schweiz bis zu seinem Tod zwiespältig. In einem Interview von 1995 sagte er hintersinnig, dass er «die Schweiz eine wunderbare Idee» finde. Die Realität im Land schere ihn indessen «etwas weniger».

Gomringer schrieb auch für Geld

Eugen Gomringer hatte keine Berührungsängste mit der kommerziellen Nutzung seines Talents. So arbeitete er etwa als Werbeleiter in einem Industriebetrieb in Frauenfeld. Und später als Kulturbeauftragter einer Fabrik im Norden Bayerns.

In jener Region – im oberfränkischen Rehau – liess sich Eugen Gomringer in den 1970er-Jahren nieder. Er wurde Vater von sieben Söhnen und der einzigen Tochter Nora Gomringer, die heute ihrerseits zu den bekanntesten Lyrikerinnen im deutschsprachigen Raum zählt.

«Avenidas» führt zu Sexismus-Vorwürfen

Für viel Aufregung sorgte 2017 Gomringers Gedicht «avenidas». Es hatte während Jahren in grossen Lettern auf der Fassade einer Berliner Hochschule gestanden. Bis Angehörige der Hochschule monierten, es könnte Frauen gegenüber als diskriminierend aufgefasst werden.

Im Gedicht heisst es: «alleen und blumen und frauen und ein bewunderer». Damit würden Frauen zum Objekt männlicher Bewunderung degradiert, lautete die Kritik. Gomringer wehrte sich. Ohne Erfolg. Nach hitziger öffentlicher Debatte wurde das Gedicht überpinselt.

Über seine Zeit hinaus

Obwohl seine Gedichte oft mit Unverständnis oder sogar Empörung zu kämpfen hatten, schrieb Eugen Gomringer seine neue Art der Lyrik immer weiter. Durch seine überraschende Art, die Sprache gegen den Strich zu bürsten und dadurch zu ungewohnten Bedeutungsebenen vorzudringen, gilt er bis heute als unbestrittener Erneuerer der modernen Literatur.

Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Nachrichten, 22.08.2025, 17:30 Uhr

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