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Mehr als nur Lack und Leder Wie der Fetisch in die Schmuddelecke kam

Missionare, Marx und Freud: Der Begriff «Fetisch» hat eine bewegte Geschichte.

Sigmund Freud ist schuld – so viel ist klar. Dass wir heute beim Wort «Fetisch» sofort an Lack und Leder denken, verdanken wir dem Wiener Psychoanalytiker. Dabei war Freud einer der letzten, der den Begriff aufnahm. Der Fetisch ist viel älter, fast 500 Jahre alt.

Seine Geschichte beginnt im 16. Jahrhundert: Portugiesische Kolonialisten beobachteten damals die Menschen in Westafrika, die Statuen schnitzten und ihnen eine Seele einhauchten. Die Dinge wurden «lebendig» – und manche hatten magische Kräfte.   

So jedenfalls interpretierten es die Portugiesen und nannten die Statuen und Gegenstände «Feitiço» – etwas «Gemachtes» oder «Nachgemachtes». Der Begriff Fetisch bezeichnete also einen religiös oder quasireligiös verehrten Gegenstand. 

Wer imitiert hier wen?   

Die portugiesischen Reiseberichte hatten allerdings Schlagseite: Sie waren aus europäisch-christlicher Warte geschrieben und voller Hochmut. Und ganz so eindeutig sei die Herleitung dieser Fetisch-Praktiken nicht, sagt Mario Schärli. Der Philosophie-Dozent an der Uni Freiburg hat über  die wechselvolle Geschichte des Fetisch-Begriffs geschrieben und erläutert eine interessante These.

Ein geschnitzter Kopf, leicht zerstört.
Legende: Vielleicht ein Fetisch: ein Kopf aus Speckstein, der aus Westafrika aus dem 16. Jahrhundert stammt. Getty Images/Sepia Times/Universal Images Group

«Untersuchungen haben gezeigt, dass diese magischen Praktiken und Kulte der Einheimischen erst auftauchten, als diese schon länger mit den Portugiesen Kontakt hatten», sagt Mario Schärli. «Die Afrikaner beobachteten ja ihrerseits die katholischen Portugiesen: Wie sie sich vor Holzkreuzen verneigten oder über Speisen und Getränken Sprüche murmelten. Vielleicht taten sie es den Portugiesen irgendwann gleich, aus Höflichkeit oder aus Pragmatismus.» 

Fetisch war früher der Inbegriff des Rückständigen, Irrationalen, Primitiven.
Autor: Mario Schärli Philosoph

Es ist also unklar, ob die portugiesischen Seefahrer und Missionare die westafrikanischen Völker bei ihren urtümlichen Praktiken beobachteten – oder ob sie nicht vielmehr einer Imitation ihrer eigenen religiösen Rituale zuschauten.  

Interkonfessioneller Kampfbegriff    

100 Jahre später herrschte Krieg in Europa: Anhänger der Reformation zogen gegen Vertreter des alten katholischen Glaubens ins Feld. Der Konflikt wurde bis in die Kolonien getragen.  

Als dort niederländische Calvinisten auftauchten, polemisierten sie gegen die afrikanische wie die katholische Objektverehrung gleichermassen.  «Fortan war ‹Fetisch› Inbegriff des Rückständigen, Irrationalen, Primitiven», sagt Mario Schärli.

Wir Sklaven von Waren  

Bei Karl Marx erhielt der Fetisch im 19. Jahrhundert eine weitere Dimension. Im aufkeimenden Kapitalismus wurden Waren zum Fetisch. Philosophie-Dozent Schärli nimmt den Turnschuh als aktuelles Beispiel. Der Schuh ist nicht mehr als Stoff und Plastik. Trotzdem sind Menschen bereit, dafür sehr viel Geld auszugeben. «Und zwar viel mehr, als es dem Gebrauchswert des Turnschuhs entspricht», erläutert Schärli.

Ein Paar Turnschuhe, daneben das Echtheitszertifikat.
Legende: Kult oder Fetisch? Auf jeden Fall reif fürs Museum: Ein Paar Nike Air Jordan 1, getragen und signiert von Basketballlegende Michael Jordan, sind im «ShoeZeum» von Las Vegas ausgestellt. Reuters/Steve Marcus

Etwa, wenn der Basketballspieler Michael Jordan diesen Turnschuh während eines wichtigen Spiels getragen hatte. «Dann soll der Schuh plötzlich mehrere 10'000 Dollar wert sein. Da steckt jede Menge magisches Denken drin – ähnlich wie damals bei den afrikanischen Statuetten.» Marx nannte dieses Phänomen «Warenfetischismus».   

Die Suche nach dem Ersatzobjekt   

Und schliesslich prägte Sigmund Freud unser Verständnis des Begriffs. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte er die Theorie, dass sich die sexuelle Begierde, die nicht befriedigt werden kann, ein Ersatzobjekt sucht. Voilà, der sexuelle Fetisch war geboren.  

Eine Frau in einem Ledergeschirr.
Legende: Bondage, SM, Lackschuhe, Lederpeitsche: Den Begriff Fetisch verbinden heutzutage viele mit speziellen sexuellen Vorlieben. Imago/AlexxMaxim

Dass ein solches Verhalten als krankhaft angesehen wurde, sei eher den Zeitumständen als dem Wiener Psychoanalytiker zuzuschreiben, meint Mario Schärli: «Freud sah ja alle Menschen in ihren Sehnsüchten und Begierden als mehr oder weniger gestört.» 

Heute sehen viele den sexuellen Fetisch ebenfalls entspannter.  Solange niemand zu irgendwas gezwungen wird, dürfen alle nach ihrer Façon glücklich werden – auch sexuell. Freud hätte seine Freude daran. 

Radio SRF Kultur, Kultur Aktuell, 30. Juli 2021, 8:10 Uhr

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