Bei «Maria durch den Dornwald ging» blühen die Rosen – Beim entsprungenen Ros ist aber weder Blume noch Ross gemeint. Wir wollten von der Organistin Nicoleta Paraschivescu und vom Pfarrer Tobias Dietrich wissen: Was bedeuten manch rätselhafte Bilder in den Weihnachtsliedern? Und warum sind sie so beliebt?
1. «O du Fröhliche»
Hintergrund: Die Melodie war ursprünglich ein altes sizilianisches Marienlied. Der Weimarer Waisenvater Johann Daniel Falk schrieb den Liedtext um und druckte es 1815. Er empfahl, das Lied an Weihnachten, Ostern und Pfingsten zu singen. Heute ist es das Weihnachtslied schlechthin.
Inhalt: «Welt ging verloren, Christ ist geboren», heisst es in dem Lied. Was heisst das heute? Pfarrer Tobias Dietrich sagt: Mit der Erfahrung des Verlorenseins könnten Menschen auch heute – gerade in Zeiten von Corona, Lockdowns und Klimakrise – viel anfangen. Ebenso mit der Hoffnung auf Versöhnung.
Warum so beliebt? Vermutlich liege es an der sogenannten Kontrafaktur, sagt Nicoleta Paraschivescu. Das ist ein Phänomen, das im Mittelalter weit verbreitet war: Menschen nahmen alte, beliebte Volkslieder, die eingängige Melodien hatten, und versahen diese mit einem neuen, geistlichen Text.
Diese Kontrafakturen hatten grossen Wiedererkennungswert. Für Nicoleta Paraschivescu ist «O du Fröhliche» ein besonders festliches Lied, das nach der traditionell ruhigen Adventszeit die Freude über die Ankunft Christi ausdrückt.
2. «Macht hoch die Tür»
Hintergrund: Der Text des traditionellen Adventslieds wurde 1623 zur Einweihung einer Kirche in Königsberg, Ostpreussen geschrieben. Die Melodie wurde erstmals 1704 gedruckt.
Inhalt: In den Strophen geht es sehr royal zu: Der Herr der Herrlichkeit wird besungen und mit allerlei Attributen versehen. Ein König aller Königreich dessen Gefährt Sanftmütigkeit und dessen Zepter Gerechtigkeit ist.
Die Sprache knüpfe an alttestamentliche Propheten an, so Tobias Dietrich. Der Clou daran sei, dass hier ein Gegen-Bild zu sonstigen Herrschern beschrieben werde. Der König war damals auch Kriegsherr, der militärische Macht ausübte. Der Text sei also herrschaftskritisch: «Denn der, der hier erwartet wird, wendet sich den Schwächsten zu.»
Warum so beliebt? «Lieder wie dieses vermitteln Geborgenheit und Freude, man spürt die Gemeinschaft», sagt Nicoleta Paraschivescu. Musikalisch sei das Lied ein Hit, weil es im 6/4-Takt komponiert ist. «Es hat einen sehr tänzerischen Charakter. Und es ist symmetrisch, hat 8 Verse. Die mittleren, 3 und 4, wiederholen sich.»
3. «Tochter Zion»
Hintergrund: Die Melodie kommt aus Georg Friedrich Händels Oratorien Joshua und Judas Maccabäus. Der evangelische Theologe Friedrich Heinrich Ranke schrieb um 1820 den neuen Text dazu. Grundlage ist eine Passage aus dem Alten Testament aus dem Buch Sacharja. Ranke beschreibt einen friedlichen König.
Inhalt: Doch wer ist diese Tochter Zion? «Jauchze laut, Jerusalem», heisst es. Aber für Jüdinnen und Juden ist Christus ja nicht der Messias. Tobias Dietrich meint: «Hier geht es nicht um so etwas wie Judenmission. Das wäre hochproblematisch.» Vielmehr sei die Tochter Zion eine Allegorie: Die Stadt hatte damals, zur Zeit des Ersten Testaments, einen eigenen Charakter und wurde weiblich beschrieben. Als Mutter, als Tochter, Geliebte oder gar Hure.
Die Tochter Zion könne für den Zionsberg stehen, für den Ort der Gegenwart Gottes, für einen Sehnsuchtsort. Ein Ort, der Leben in Frieden, Gerechtigkeit und Versöhnung beinhalte. Die vielen Textbezüge auf prophetische Texte der hebräischen Bibel seien dadurch zu erklären, dass diese die Grundlage des Christentums darstellt.
Warum so beliebt? Nicoleta Paraschivescu: «Das Lied ist majestätisch und anmutig.» Sie sieht eine Symbiose zwischen Text und Melodie, und das sei «eine tolle Voraussetzung für einen Ohrwurm».
4. «Es ist ein Ros entsprungen»
Inhalt: Hier springt kein Ross. Und es blüht wohl auch keine Rose, wie man meinen könnte. Sondern, so Tobias Dietrich: «Es ist eine Metapher aus dem Alten Testament, eine Ankündigung des Messias aus Jesaja.» Martin Luther übersetzte: «Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais, und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen.»
Vermutlich sei dem Autor des Liedes im 16. Jahrhundert dieser Text bekannt gewesen und er habe den «Reis» – gemeint ist der Beginn eines neuen Zweiges – als «Ros» umgedichtet. Später im Lied heisst es, ein Blümlein komme aus dem Ros. Und das kann ja nicht aus einer Rose kommen, so Dietrich.
Warum so beliebt? «Es gehört zur Gruppe der zarten, introvertierten und berührenden Lieder», sagt Organistin Nicoleta Paraschivescu. Der Gesangbuch-Satz von Michael Praetorius sei etwas vom Schönsten.
5. «Maria durch ein Dornwald ging»
Inhalt: Hier kommen nun aber die Rosen vor: «Da haben die Dornen Rosen getragen, als das Kindlein durch den Wald getragen.» Maria trage das Kind unter ihrem Herzen, »sie ist also noch schwanger», so Tobias Dietrich. Der dornige Weg durch den Wald erinnere an eine Szene des Lukasevangeliums, wo Maria einen langen Fussmarsch zu ihrer Verwandten Elisabeth unternimmt. Eine mystische Vorfreude-Geschichte, bei der die Natur den Neuanfang als Erstes spürt.
Die Dornen stehen für das Leiden, das Lebensfeindliche. Und als Jesus – wenn auch nur im Bauch – dort vorbeigeht, da blüht die Natur auf. «Nach sieben Jahren. Diese Zahl erinnert an die Schöpfung, sie steht für Vollkommenheit,» so Theologe Dietrich. Die Aussage darin sei: «Mit Jesus kommt neues Leben.»
Hintergrund: Die Melodie wird auf das 16. Jahrhundert geschätzt. Der Text wurde 1850 im heutigen Thüringen erstmals publiziert.
Warum so beliebt? Es ist melancholisch, klingt verträumt und nachdenklich. Das beliebte Lied wird immer wieder neu vertont, auch von Popstars wie Helene Fischer.