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Benjamin Clementine «Wir sind Träumer und stark»

Ist es Jazz? Oder Soul? «Ich habe kein Genre», sagt Benjamin Clementine, «ich bin Benjamin». Auf dem neuen Album schaut er in die Welt hinaus.

Das Wichtigste in Kürze

  • Benjamin Clementine machte Musik in der U-Bahn, als er von einem Plattenchef entdeckt wurde.
  • War seine erste Platte noch nach innen gerichtet, öffnet sich Benjamin Clementine auf seinem neuen Album «I Tell A Fly» gegenüber der Welt.
  • Auf seinem aktuellen Album setzt er sich mit politischen Themen auseinander. Nicht als Protest, sondern als Bestandsaufnahme.

Entdeckt als Strassenmusiker

Den gross gewachsenen, grazilen 28-jährigen Briten mit den vorstehenden Wangenknochen und dem aufgetürmten Haar umgibt etwas Trauriges.

Benjamin Clementine wirkt verletzlich, befangen, spricht leise und langsam, macht immer wieder eine Pause und überlegt viel. Erst nach längerer Zeit taut er etwas auf, lächelt sogar, aber das Melancholische weicht nicht wirklich.

Mit seinem letzten Geld kaufte er sich vor Jahren ein Easy-Jet-Ticket von London nach Paris. Mal lebte er auf der Strasse, mal kam er in billigen Hotels unter. Er machte Musik in der U-Bahn und wurde schliesslich von einem Plattenchef entdeckt und unter Vertrag genommen.

Kein Genre – einfach Benjamin

So ist das Debüt «At Least For Now» zustande gekommen, das 2015 mit dem Mercury Prize ausgezeichnet wurde. Im Song «Cornerstone» erzählt Benjamin Clementine von seinem Leben auf der Strasse. «I am lonely, alone in a box of stone», singt er.

Zum Nachören

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«Pop Routes» stellte 2015 das erste Album von Benjamin Clementine vor – und andere Stars, deren Karriere auf der Strasse begann.

Beeindruckend seine Auftritte: Mit nackten Füssen erscheint Benjamin Clementine auf der Bühne und hämmert aufs Klavier ein.

Dazu singt er mit voller, warmer Stimme. Weder Jazz noch Soul – seine Musik entzieht sich jeder Kategorie. «Ich habe kein Genre. Ich bin Benjamin», sagt er dazu.

Alleinsein als roter Faden durchs Leben

Das Klavierspiel nach Art der klassischen Musik brachte er sich selbst bei, indem er Erik Satie hörte. Benjamin Clementine war ein stilles Kind – das jüngste von fünf. Schüchtern war er, scheute jeden sozialen Kontakt. Er war am liebsten für sich, flüchtete sich stundenlang in die Stadtbibliothek.

Das Alleinsein zieht sich wie ein roter Faden durch sein Leben: Geboren ist er in London, aufgewachsen bei der katholischen Grossmutter im englischen Stevenage, mit zehn zu den Eltern zurückgezogen, in ein strenges christliches Haus, in dem nur klassische Musik zu hören war.

«Ich bin nun Künstler»

War seine erste Platte noch nach innen gerichtet, öffnet sich Benjamin Clementine auf seinem neuen Album «I Tell A Fly» und schaut in die Welt hinaus. «Ich bin nun Künstler», sagt der 28-Jährige, so als könnte er es selbst nicht fassen.

Dieses Mal setzt er sich mit aktuellen politischen Themen auseinander: Mit dem Fremden, mit Migranten und mit dem Unbekannten. «Das ist kein Protest», erklärt der britische Künstler mit ghanaischen Wurzeln. «Meine Aufgabe ist hier eine soziologische, aktuelle kritische, aber friedliche Bestandsaufnahme.»

Gemobbter Aussenseiter

«I Tell A Fly» ist als Theaterstück konzipiert. Dazu inspiriert hat ihn ein Vermerk in seinem US-Visum: «Fremder mit aussergewöhnlicher Begabung».

Er kam auf die Idee, eine Erzählung über zwei Fliegen zu schreiben. Die Songs sind unterschiedliche Geschichten und reflektieren «seine Zeit», betont er immer wieder.

Im Song «Phantom Of Aleppoville» verarbeitet Benjamin Clementine eigene schmerzliche Erinnerungen und sein Dasein als Aussenseiter. «Als Kind wurde ich ständig in der Schule gemobbt. Das hat mich traumatisiert», so Benjamin Clementine. «Doch im Vergleich zu den Erlebnissen eines Kindes in Aleppo sind meine geradezu lächerlich.»

Träumer im Kampf gegen Barbaren

Benjamin Clementine beschäftigte sich eingehend mit der Arbeit des englischen Kinderarztes und Psychoanalytikers Donald Winicott, der sich mit dem Mobben und dem Kriegstrauma von Flüchtlingen befasste. So konnte er eine Parallele zwischen seinen eigenen Erfahrungen und den Aleppo-Kriegserlebnissen von Kindern ziehen.

Am Ende kommen alle Protagonisten – Tiere, wie etwa die Hausfliege und die Pferdefliege – zusammen und singen: «Uns bleiben nur Träume. Wenn die Barbaren kommen, ist das in Ordnung. Wir sind Träumer und stark.»

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 29.9.17, 16.50 Uhr

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