Club Zukunft in Zürich, eine Samstagnacht im Mai. Die Stimmung bordet über, die ganze Tanzfläche hüpft. «Freed from Desire» heisst die alte Euro-Dance-Nummer, die DJ Alex Dallas gerade spielt.
Frei von Verlangen? Das Gegenteil ist der Fall. Die Jugend kompensiert, was in zwei Pandemie-Jahren kaum möglich war: sich im Sog der Bässe zu verlieren, kollektiv durch die Nacht zu treiben. In der Zeit nach den Corona-Lockerungen lebt sie dieses Bedürfnis in vollen Zügen aus. Von Genf bis St. Gallen, von Basel bis Lugano.
Alex Dallas, eine zentrale Figur des Schweizer Nachtlebens, ist überzeugt: «Corona war wie ein Reset-Knopf für die Szene. Und jetzt ist alles fast wieder back to normal .»
Normal ist, wenn der Ausgang möglich ist. Eines wurde während der Pandemie klar: Im Moment, als die Tanzflächen leer waren, wurden sie so sichtbar wie nie. Corona hat den Clubs nicht den Garaus gemacht, sondern deren Existenzberechtigung bestätigt. Es herrscht ein kunterbuntes Nebeneinander: vom Day-Dance bis zu Afterhours, von der Halligalli-Sause bis zum experimentell gearteten Club-Festival im Kunstmuseum.
Ein unseriöser Beruf?
Es war ein langer Weg, bis sich diese Vielfalt etablieren konnte. Vor 60 Jahren war die Schweiz ein verstocktes Land. Die Grossstädte schlummerten vor sich hin. Jazz, Swing und Beat liefen in ein paar wenigen Nachtclubs wie dem Genfer Le Grillon oder dem Zürcher Mascotte.
Getanzt wurde höchstens bis Mitternacht. Aber im Zuge der Swinging 60s fiel manche Gewissheit: Man tanzte nicht länger als Paar. Und den Sound besorgte immer öfter ein DJ.
Wer damals aber Platten professionell auflegen wollte, hatte es nicht leicht. In der Öffentlichkeit galt der Beruf als unseriös. Und er war insbesondere etablierten Orchestern ein Dorn im Auge. Sie sahen ihr Monopol bedroht: die Beschallung der Nachtclubs. Der Aufstieg der DJs jedoch war unvermeidlich.
Disco als Sehnsuchtsort
Einer der ersten, der die mehrheitlich schwarze Disco-Musik spielte, war DJ Roger Giger: Er reihte die Platten nahtlos aneinander, passte die Tempi an, bracht alles in einen Fluss: So, dass die Tänzerinnen und Tänzer auf einem musikalischen Teppich durch die Nacht schwebten.
Die «Disco» wurde in der Schweiz immer mehr zum Sehnsuchtsort. Die Jugend strömte in den 1970er- und frühen 80er-Jahren in die wenigen Clubs. Oder tanzte an Wanderdiscos, die mit mobilen Soundanlagen von Stadt zu Land zogen.
Die Party als Reibungsfläche
Der 80er-Bewegung, die für Freiräume abseits der etablierten bürgerlichen Kultur kämpfte, war die heraufdämmernde Diskotheken-Kultur suspekt. Bei der lauten Musik könne ja gar nicht mehr anständig diskutiert werden! Das Tanzen unter der Glitzerkugel galt als oberflächlich und kommerziell, die Musik als stumpf bis stupid.
Die Vorurteile hielten sich hartnäckig: Als im alternativen Jugendzentrum Dolce Vita in Lausanne 1988 die erste House-Party stattfand, legte das gesamte Barpersonal aus Protest die Arbeit nieder.
Von Soul zu Funk, Disco zu House, Techno zu Drum’n’Bass: Anhand der in ihrer DNA eng verwandten Spielarten lässt sich die Entwicklung der hiesigen Clubkultur am stringentesten aufschlüsseln. Roger Giger etwa spielte erst Disco, dann House. Zu einer Zeit, als es dafür noch gar keinen Namen gab, und als einer der ersten DJs in Europa. Giger: «Ich kriegte damals Promo-Platten aus New York zugeschickt. Monate bevor sie zu kaufen waren.»
Herzschlag und Wumms
In der Deutschschweiz waren es dann auch Protagonistinnen und Protagonisten der Bewegung, welche die Clubkultur verankerten. Darunter Marco Repetto, der mit seiner Band Grauzone einmal den «Eisbär» schuf: die Hymne einer Generation, die sich gegen den frostigen Zeitgeist auflehnte.
Repetto war von der rohen, frühen House-Musik begeistert: «Der Sound vibrierte im alten, für mich einmal kommerziellen Herzschlag von Disco, hatte aber den Wumms von Punk.» Das inspirierte Repetto, selbst an Club-Tracks zu feilen. Er avancierte zu einem der ersten Techno-Musiker im Land.
Freie Sicht aufs Mittelmeer
Die schwarze Tanzmusik aus Übersee wurde von der vorwiegend weissen Schweizer Jugend enthusiastisch adaptiert. Und in vielerlei Hinsicht durfte die angeblich apolitische Techno-Generation der frühen 90er dann ausleben, was die 80er-Jugend mit dem Slogan «Freie Sicht aufs Mittelmeer» gefordert hatte: mehr Spass. Und mehr Lebensfreude!
Am 5. September 1992 bezog in diesem Geiste die erste Street Parade das teuerste Pflaster der Schweiz: die Zürcher Bahnhofstrasse. Das hatte Symbolkraft, denn Techno tanzte so mitten in den Tag und mitten in die Gesellschaft hinein. Zur «Energy», einem Rave, der in der gleichen Nacht stattfand, strömten 6000 Menschen. Sie machten aus ihr die bis dahin grösste Techno-Party auf dem europäischen Kontinent.
Antanzen gegen das Verbot
Sonja Moonear büxte in jener Zeit regelmässig von zu Hause aus. Die heute international erfolgreiche DJ war erst 12, als sie in besetzten Häusern Genfs den noch jungen Sound für sich entdeckte. «Die Leidenschaft hat mich sofort gepackt: Ich wollte diese Orte aufsuchen, wo du bei wenig Licht mit lauter Unbekannten tanzt und diese starke Musik deinen Körper ergreift.»
Beat, Bass und Stroboskop waren bald überall. In der Romandie boomte eine grosse House-Szene. Berner, Bielerinnen oder Basler fuhren zur Dancefloor Syndroma im Casino de Montreux. Hier konnte man an Ostern und Pfingsten tanzen, während das in der Deutschschweiz verboten war.
Die Tanzfläche macht alle gleich
Im Nebel der Nacht sollte die elektrifizierte Jugend ihre Erleuchtung erlangen. Sie lernte viel über neue Körperlichkeit und einen fliessenden Geschlechterbegriff. Der Dancefloor war ein Ort der Emanzipation für queere Menschen. Hier tanzten ausgelassen Schweizer neben Secondas, hier vermischten sich Gutbürgerliche und Bewegte, Künstler und Bankerinnen.
Die frühen Techno-Partys tickten wie eine soziokulturelle Versuchsanlage. Im Kleinen egalisierten sie damals die Gesellschaft. Für den Italo-Secondo und Techno-Pionier Marco Repetto, der in den frühen 1960er-Jahren noch als «Tschingg» beschimpft worden war, eine Offenbarung: «Ich staunte über all die verschiedenen Menschen, die in Zürich und Bern harmonisch miteinander tanzten.»
Von Yello bis DJ Bobo
Der Club bündelte auch kreative Kräfte. Während sich in der Zürcher «Platte 27» ab 1965 Künstler und Musikerinnen wie Dieter «Yello» Meier, David Weiss oder Irène Schweizer verausgabten, feierte Meret Oppenheim im «Hot House» in der Berner Altstadt.
Das Grafikkollektiv Büro Destruct, das mit Kampagnen für Sony oder Adidas berühmt werden sollte, begann einst mit Rave-Flyers. Und die Internet-Künstlergruppe etoy erhielt 1996 den Preis der Digitalkunstmesse Ars Electronica. Auch sie war in der Techno-Szene verwurzelt.
So sehr die Clubkultur aus der Nische kommt: Ihr Sog sollte bald die Masse in den Bann ziehen. Und eine kommerzielle Schlagseite bekommen. Ein paar Monate nach der ersten Street Parade stürmte ein gewisser René Baumann als DJ BoBo mit «Somebody Dance With Me» die europäischen Charts.
Später traten DJ Antoine und DJ Tatana in seine Fussstapfen, wenn auch nicht ganz so erfolgreich. Und die Street Parade wurde zur spätsommerlichen Fasnacht, die um die Jahrtausendwende gut eine Million Menschen anlockte.
Wer hat’s erfunden?
Die Street Parade, einmal der Berliner Love Parade nachempfunden, lief da schon viel effizienter als das Original. Überhaupt hat die Schweiz einiges besser gemacht: Das Drug-Checking, das der Rave-Boom notwendig machte, wurde aus dem Ausland übernommen und hier clever optimiert.
Während weltweit Therapieversuche mit psychedelischen Substanzen wie Psylocibin oder MDMA heute populär sind, liefen ähnliche Bestrebungen schon sehr früh in der Schweiz. Die Massenkultur Techno plausibilisierte dies – und schuf dafür erstmals eine echte Öffentlichkeit.
LSD im Grünen
Übrigens: LSD, die Entdeckung des Schweizer Chemikers Albert Hoffmann, imprägnierte nicht nur die Hippie-Kultur, sondern massgeblich auch den «Vibe» der allerersten Disco- und House-Partys in New York und Chicago.
Grafikgeschichte: Flyer aus der Clubkultur
Der Konsum von LSD spielt bei den meisten Goa-Trance-Partys ebenfalls eine Rolle. Statt am südindischen Strand oder in der israelischen Wüste finden diese Partys bei uns gerne im Grünen statt. Die Schweizer Goanerinnen berufen sich auf die psychonautische Aussteiger-Tradition des Monte Verità im Tessin, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstand.
Party-Sonderfall Schweiz
In der Schweiz bewegte sich gerade in den 1990er-Jahren viel. Während die Thatcher-Regierung in England die Rave-Kultur quasi auf den Index setzte, durfte sich Techno hier ungehindert entfalten. Dass damals fast in allen Städten Rot-Grün an die Macht kam, begünstigte die Entwicklung: Linke Kreise erkannten im Party-Bereich früh einen Standortfaktor.
Ich spüre eine Aufbruchsstimmung in der lokalen Szene.
Die bis anhin halblegal feiernde Partyszene führte zur Liberalisierung der Gastronomie. In der Folge sprossen die Clubs und Bars aus dem Boden, was für eine enorme Urbanisierung sorgte. Aber nicht nur das: Ausländische Gäste staunen immer wieder, wie friedlich es hierzulande auf Partys zugeht.
Techno wird zum Kulturgut
Seit dem Millenium hat sich die Szene konsolidiert, professionalisiert und ausdifferenziert.
Die Zürcher Techno-Kultur hat mittlerweile Eingang gefunden in die Liste der lebendigen UNESCO-Traditionen der Schweiz. Das ist ein sicheres Indiz dafür, dass die Clubkultur heute ernst genommen wird – sie ist zum etablierten Kulturgut gereift.
Und: Die Clubkultur ist ein popkulturelles Scharnier, an dem sich nachvollziehen lässt, wie die Schweiz in den letzten Jahrzehnten moderner geworden ist. Bunter, offener, internationaler.
Die Jugend übernimmt
Vor 60 Jahren war der Club eine Leerstelle. Heute bietet er Platz für fast alle. Während sich Techno zwischenzeitlich zurück in die Nische bewegte, wird nun der Sound der 90er-Jahre wieder entdeckt.
Sonja Moonear freut sich darüber: «Jetzt sind die Jungen dran. Das stimmt mich zuversichtlich.» Auch Alex Dallas vom Club Zukunft sagt: «Ich spüre eine Aufbruchsstimmung in der lokalen Szene. Eine neue Generation ist jetzt an den Reglern. Und das ist nichts als natürlich.»