Hitlisten wie «die besten Songs aller Zeiten» oder «die erfolgreichsten Schweizer Singles» gibt es zuhauf. So ein Ranking ist das neue Buch des Wiener Kulturhistorikers und Radiojournalisten Wolfgang Kos nicht.
Sein Kriterium für die Auswahl: «Ich habe Lieder mit besonderer Relevanz zusammengetragen, Lieder mit mehreren Bedeutungsschichten, die Nahrungsmittel waren für Generationen.»
Überraschungen inklusive
Lieder mit Identifikationspotenzial, das heisst oft auch: Lieder mit Erfolg. Doch wenn ein eingefleischter Musikfan meint, die erfolgreichen Songs des 20. Jahrhunderts sowieso schon zu kennen, dann lehrt ihn dieses Buch eines Besseren.
Protestsongs wie das anti-rassistische «Strange Fruit» von Billie Holiday oder John Lennons Friedenshymne «Imagine» sind natürlich vertreten. Und auch aus den 60er-Jahren, der goldenen Zeiten des politischen Songs, sind viele alte Bekannte dabei. Wolfgang Kos hat aber auch über den europäischen und US-amerikanischen Tellerrand hinausgeschaut und sich quer durch die Genres bewegt.
Eine Auswahl der Lieder, die am meisten überraschen:
1. Aus grauer Städte Mauern – Das Programmlied der Wandervögel
Raus aus den Städten, die krankmachen, zurück in die Natur! Diese Botschaft propagiert dieses Wanderlied in einer volkstümelnden Viervierteltakt-Marschmelodie.
1901 in Berlin gegründet, waren die Wandervögel eine der ersten Jugendbewegungen. 1927 sind sie bereits über vier Millionen Mitglieder.
Schüler und Studenten bürgerlicher Herkunft schlossen sich zusammen, «um sich mit der Kraft der Natur gegen die moderne Dekadenz zu wappnen», schreibt Wolfgang Kos.
Aus grauer Städte Mauern wurde zur Hymne dieser Bewegung, die den Verlauf der Geschichte mitprägt: «Aus dem Wanderschritt wurde ein Marschtritt, viele Wege – aber keineswegs alle – führten in den Nationalsozialismus.»
2. Desafinado – Der Bossa Nova und die Moderne von Rio
«Bossa Nova» heisst «Neue Welle» – eine urbane Bewegung, die im Brasilien der späten 50er-Jahre ein optimistisches, postkoloniales Lebensgefühl etablieren will. João Gilbertos hauchende, leichte Stimme spiegelt diese Modernität wider.
Das Lied Desafinado ist als sarkastische Reaktion auf den Vorwurf entstanden, Bossa-Nova-Sänger könnten nicht singen, sagt Wolfgang Kos. «‹Desafinado› heisst so viel wie ‹verstimmt›. Das Lied macht also eine klare Ansage: Diese neue Jugend will verstimmt klingen, sie will eben gerade nicht aus plumpen Machos bestehen.»
3. Azzurro – Weitab vom Meer
In Azzurro , Italiens heimlicher Nationalhymne, geht es nicht etwa um eine unbeschwerte Zeit am Strand. Hinter dem leichten Sommerschlager steckt die Klage eines einsamen Jugendlichen aus der Unterschicht, der sich an einem Sonntag in einer Stadt weit weg vom Meer langweilt und sich zu seiner Liebsten träumt.
1990 covern die Toten Hosen den Song . Bei ihnen endet eine Italienreise mit kaputtem Auto auf dem Parkplatz. «Die Essenz dieses Liedes, dessen Witz darin liegt, eben nicht ans blaue Meer zu gelangen, wurde von den Toten Hosen kongenial getroffen», sagt Wolfgang Kos.
4. Don’t Cry For Me Argentina – Eine gesungene Volksrede
Don’t Cry For Me Argentina ist eine Song-Arie, die auch losgelöst von ihrem Kontext zum Hit wurde. Sie stammt aus der Rock-Oper Evita, worin der Aufstieg der vom Land kommenden Schauspielerin Eva Péron zur Ehefrau des argentinischen Faschisten Juan Péron nacherzählt wird.
Die Arie ist der pathetische Höhepunkt des Musicals: Evita steht auf dem Balkon der Casa Rosada in Buenos Aires und bittet ihr Volk um Absolution – ein « Liebesakt zwischen Evita und ihrem Land», schreibt Wolfgang Kos. Mit der Verfilmung 1996 mit Madonna in der Hauptrolle wird die Figur der Diktatorengattin dann völlig zu einer unpolitischen Ikone verklärt.
5. Birima – Die Stimme des jungen Senegal
Birima steht am Schluss von Wolfgang Kos' Liste der 99 Songs, die das 20. Jahrhundert geprägt haben. «Ich möchte damit andeuten, dass sich vielleicht bald die Weltkarte der Musikproduktion öffnet und die Dominanz angloamerikanischer Popmusik vielleicht ja irgendwann endet», sagt der Wiener.
Das Lied «Birima» des panafrikanischen Superstars Youssou N’Dour erinnert an den König Birima, der Musiker als Boten zwischen ihm und dem Volk eingesetzt hat. Mit der Wahl von Birima als Schlusslied hat Wolfgang Kos auch ein eigenes Statement abgegeben: ein Plädoyer für die Musikerin, den Musiker der oder die sich engagiert, Verantwortung übernimmt und eine wichtige Funktion in der Gesellschaft übernimmt.