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Jazzgeiger Tobias Preisig Die Musik vor Augen – den Tod auf der Schulter

Der Jazzgeiger Tobias Preisig will so viel Musik machen wie nur möglich. Davon bringt ihn auch eine Krankheit nicht ab. Die Geschichte eines Glücks.

Ich bin anfangs 20, als ich Tobias Preisig kennenlerne. Er ist ein Teenager. Nicht einfach «ein» Teenager, sondern der fröhlichste und offenste Teenager, den ich je kennengelernt habe.

Dabei kann er zum Zeitpunkt unserer ersten Begegnung nicht damit rechnen, älter als 25 zu werden. Die Diagnose Cystische Fibrose ist anfangs der 1980er-Jahre noch ein Todesurteil.

Ein Wunder

Dass Tobias sich seinen grossen Wunsch erfüllen konnte und Jazzgeiger geworden ist, grenzt an ein Wunder. Dass er heute, mit über 40, fitter ist als je zuvor, ebenfalls.

Was ist Cystische Fibrose?

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Die Cystische Fibrose (CF), auch Mukoviszidose genannt, ist eine chronisch verlaufende, fortschreitende Stoffwechselerkrankung. Sie kann nicht geheilt, aber mit einer breiten Palette von Therapiemöglichkeiten behandelt werden.

Bei CF sind Wasser- und Salzhaushalt der Schleimhäute gestört. Zäher Schleim verklebt die Lunge und verstopft die Bauchspeicheldrüse. Die Folgen sind Bauchschmerzen, Durchfall und eine reduzierte Gewichtszunahme.

Durch die Symptome an den verschiedenen betroffenen Organen und durch den täglichen, zeitlich intensiven Therapieaufwand, bestimmt CF das Leben der Betroffenen grundlegend.

Ein hervorragender Kinderarzt und liebevolle Eltern finden einen Weg, mit Tobias über den Tod zu reden, ohne das Kind zu verängstigen. Sie besprechen zum Beispiel seine Beerdigung, erzählt Tobias viel später: «Klingt hart, von aussen gesehen. Aber für mich hatte das etwas Spielerisches. Und es hat für mich das Thema Tod entkrampft.»

Die Geige und ein Walkman

Tobias nimmt das Leben Tag für Tag. Musik gehört für ihn selbstverständlich dazu. Besucht er die Grosseltern im Appenzell, wird Hausmusik gespielt.

Als er mit sieben Jahren zum ersten Mal länger ins Spital muss, bekommt er zwei Geschenke: einen Walkman, dessen Kopfhörer er mithilfe seines Stirnbands noch tiefer in die Ohren drückt, um ganz in der Musik eintauchen zu können. Und eine kleine Geige.

Mann von Scheinwerferlicht angestrahlt, der auf seiner Geige spielt.
Legende: Tobias Preisig ist trotz seiner Krankheit (fast) immer guter Dinge. Unser Autor lernt ihn als einen der fröhlichsten Teenager kennen, den er je getroffen hat. Michel Bertholet

Noch hat Tobias keine Ahnung, wie man Geige spielt. Aber als er das Spital verlassen kann, wird sie sein neuer Lebensmittelpunkt. «Meine Eltern hatten die Intuition zu sagen: ‹Holen wir eine Geige›», erzählt Tobias Preisig. «So eine Mikrogeige   war das damals. Ich war sehr stolz!»

Bald kommt zur Geige der Jazz hinzu. Im Orchesterlager sitzt er anfangs noch bei den Klassikern. In jeder Pause zieht es ihn jedoch zur Big Band, die nebenan probt. Schliesslich findet der Big-Band-Leiter, er solle doch einfach mitspielen, anstatt immer nur zuzuschauen.

«Das Gymnasium tat mir nicht gut»

Kurze Zeit später lerne ich Tobias kennen. Ich bin Anfang 20, er ist 15, wir besuchen denselben Jazz-Workshop. Die Begegnungen mit ihm sind immer herzerwärmend. Er lacht dem Leben gleichermassen wie dem Tod ins Gesicht und setzt alles auf die Geige.

Schon als Gymnasiast ist er ständig unterwegs, immer auf der Suche nach Live-Musik: «Ich habe viel gespielt am Abend, war oft in einer rauchigen Umgebung. Frühmorgens musste ich bei einer Prüfung antanzen, habe gehustet und war völlig fix und fertig.»

Tobias merkt bald, dass ihm das nicht guttut. Er meint aber nicht das rauchige Lokal am späten Abend. «Nein, das Gymnasium tat mir nicht gut», lacht er. «Ich wollte Musiker werden.»

Dieser Wunsch, alles zu erleben

Mit 17 wird Tobias der erste Geiger an der Swiss Jazz School in Bern. Ein Jahr darauf studiert er bereits an der renommierten New School in New York. Seine Eltern lassen ihn ziehen, auch weil sie ihm so viele Wünsche wie möglich erfüllen möchten in seinem – wovon sie noch immer ausgehen – relativ kurzen Leben.

Der kurze Lebenshorizont bestimmt auch die Musik von Tobias Preisig. Als wir uns kennenlernen, spielt er noch swingenden Jazz. Der Wunsch, möglichst viel zu erleben, treibt ihn als Musiker aber rasch in viele verschiedene Genres.

Er sei immer extrem neugierig gewesen. «Manchmal habe ich mich vielleicht ein bisschen zu schnell gelangweilt, weil ich dachte: Ich muss alles jetzt erleben, weil ich es später nicht erleben kann.»

Selbstbestimmt trotz Hindernissen

Die Krankheit ist immer dabei, Inhalieren am Morgen und am Abend gehört dazu, je eine Stunde. Die Medikamente, die Müdigkeit gehören dazu. Auch das Reisen, insbesondere der Jetlag, ist mühsam, weil so der ganze Rhythmus durcheinandergerät.

Aber Tobias ist fest entschlossen, seinen Alltag, so lange wie möglich, selbst zu bestimmen und nicht von der Krankheit diktieren zu lassen.

Mann mit langen welligen Haaren und Cap der seine Geige wie eine Gitarre hält und daran zupft.
Legende: Tobias Preisig dachte lange nicht, dass er älter als 25 Jahre alt wird. Heute ist er über 40 und hat einen Sohn. Michel Bertholet

Der Erfolg gibt ihm recht. Tobias spielt bald auch mit grossen Namen und wird immer besser. Besser werden auch die Therapien, die Tobias bekommt. Es ist sein Glück, dass er in den 1980er-Jahren zur Welt kommt und nicht 20 Jahre früher.

1989 wird das Gen entdeckt, auf dem der Bauplan für die Chloridkanäle im Körper sitzt. Diese Kanäle sorgen dafür, dass Chlorid, ein Salzbestandteil, aus der Zelle austreten kann. Ist er unvollständig oder fehlt ganz, ist das der Ursprung für die fatale Fehlfunktion im Körper von CF-Patienten. Die Hoffnung auf eine baldige Gentherapie ist gross, sie hat sich allerdings bis heute nicht erfüllt.

Krankheit und Kreativität

Tobias hat jedoch früh gelernt, sich nicht mit Hoffnungen aufzuhalten. Auch die Frage: «Warum ich?» stellt er sich nicht – weil sie nichts bringt.

Ob im Jazz-Quartett, mit seinem Elektronik-Duo «Ego Pusher», oder solo: Preisig macht, was aus der Tagesverfassung heraus möglich ist, und beginnt schon bald auch als Bandleader Musik herauszugeben und auf Konzerttourneen vorzustellen.

Einmal beginnt er auf einer Bühne Blut zu husten und kann nicht mehr damit aufhören. Oft aber geht es auch gut. Als Musikredakteur präsentiere ich einige seiner Alben – aber öffentlich über seine Krankheit sprechen will Tobias nie. Es geht ihm um die Musik, nicht um sich. Ganz trennen lässt sich das gleichwohl nicht.

«Wenn Musik möglichst ehrlich sein soll, hat sie sehr viel mit meiner Persönlichkeit zu tun. Und meine Persönlichkeit hat viel mit meiner Krankheit zu tun.» Dass die Krankheit auch kreativer Motor ist, zeigt sich manchmal weniger, manchmal mehr. «In Transit» heisst zum Beispiel das Album von 2011, ein Stück darauf: «Totenmarsch».

Neues Medikament, neue Hoffnung

Die Coronapandemie ist eine Zäsur für alle. Wenn ich an vulnerable Menschen in meinem Umfeld denke, kommt mir immer auch Tobias in den Sinn. Als ich ihn nach der ersten Welle treffe, ist er wie immer guter Dinge.

Ich bringe mein Erstaunen darüber zum Ausdruck – und er erzählt mir von einer Studie, an der er teilnehmen dürfe. Denn zeitgleich mit Covid ging auch ein positiver Schock durch die CF-Szene. Eine Therapie mit dem neuen Medikament namens «Trikafta» erscheint auf dem Markt.

Die Therapie kann bei einer grossen Mehrheit der CF-Betroffenen die Lungenfunktion markant steigern. Ein Fünftel der Betroffenen muss das Medikament jedoch wieder absetzen, da «Trikafta» teilweise schwere Nebenwirkungen hervorruft oder bei gewissen Genmutationen gar nicht funktioniert. Hinzu kommen immense Therapiekosten von weit über 200'000 Franken pro Patienten und Jahr.

Alles auf Zukunft

Tobias hat Glück: Sein Körper reagiert positiv auf die Therapie. Plötzlich hat er eine Zukunft vor sich, von der er lange nicht zu träumen wagte. Als die Studien schliesslich abgeschlossen sind und das Medikament zugelassen wird, kann der Traum von einem beschwerdefreien Leben Wirklichkeit werden.

«Ich bin jetzt der Glückliche, der dieses Medikament bekommt, es geht mir unfassbar gut. Ich war aber auch der Arme, der diese Krankheit bekommen hat.»

«Warum ich?» Diese Frage stellt sich Tobias auch jetzt nicht. «Die Frage ist obsolet – der Moment zählt.»

Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 25.04.2023, 09:05 Uhr

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