Von Christoph Willibald Gluck stammt eine der schönsten Arien der Musikgeschichte. «Che faró senza Euridice?», singt der verweifelte Orpheus, nachdem er seine Euridike für immer an die Unterwelt verloren hat. Die Melodie hat Gluck unsterblich gemacht. Sie ist einfach und so ergreifend, dass sich ihr kaum jemand entziehen kann. Auch sein «Reigen seliger Geister» gehört zum Kulturgut und ist Wunschkonzertmusik geworden.
Aber sonst? Seltsamerweise ist Gluck zurzeit kein Thema. Trotz rundem Geburtstag, der bei anderen Künstlern oft eine ganze Flut an Publikationen und Aufführungen nach sich zieht – man denke nur an Wagner letztes Jahr. Bei Gluck herrscht nahezu Funkstille, erst in der neuen Saison ab September setzen ihn Bern («Armide») und Genf («Iphigénie en Tauride») auf den Spielplan.
Vom Auf und Ab des Musikgeschmacks
Noch in den 1960er- und 70er-Jahren gab es viel Gluck in der Schweiz. Die Sängerinnen und Sänger standen in pseudogriechischen Gewändern am Bühnenrand herum, das Ballett tanzte in Tutus eine pseudoklassische Choreografie, alles wartete auf «Che faró senza Euridice?» oder so und fand überhaupt die Musik nett.
Nett ist heute nichts mehr, schon gar nicht auf der Opernbühne. Lieber schrill, kontrovers und gegen den Strich gebürstet. Musikgeschmack ist – wie Kunstgeschmack überhaupt – auch eine Frage des Zeitgeistes. Zum Beispiel hätte noch vor 30 Jahren niemand den Boom der Barockoper vorausgesagt, die sich heute ihren Raum auf den Bühnen zurückerobert.
Ihr kommen das heutige Regietheater wie auch die historisierende Aufführungspraxis zugute, die diesen Stoffen und dieser Musik das Leben einhauchen, das in ihnen steckt. Das ist auch gut so, denn in ihrem ursprünglichen stilisierten Gewand würden viele im Publikum sie kaum goutieren. Wohl aber in all den zeitgenössischen Deutungen mit ihrer Lust am bunten Extrem und ruppigen Tiefgang.
Ein Rousseau der Musik
Dagegen kommt Gluck nicht an. Seine Musik ist filigran, bis in den hintersten Winkel austariert, manchmal blockartig und statisch, selten richtig dramatisch, obwohl überall der Wille dazu spürbar ist. Seine Stoffe sind ernst, seine Botschaft klar: Hier sind Menschen auf der Bühne, die einfach singen, die man verstehen soll, die sich wie Menschen bewegen.
Damit hatte Gluck in seiner Zeit eine Reform der Oper ausgelöst: weg von den barocken Kunstfiguren, die nach engen und strengen Regeln ihre irrwitzigen Koloraturen in die Höhe schraubten. Weg vom Schema x und hin zur Natur – ein Rousseau der Musik sozusagen. Damals gelang ihm das, ringsum bewunderten ihn alle als Schöpfer der modernen Bühnenmusik. Was damals frisch war, wirkt heute verstaubt, wir lieben wieder das Künstliche mit all den Möglichkeiten, die in ihm stecken.
Edel, still und langweilig
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«Edle Einfalt, stille Grösse und lange Weile», titelte vor ein paar Jahren die NZZ zu einer Gluck-Oper an den Salzburger Festspielen, die Riccardo Muti dirigierte. Gerade der berühmte Muti tut seinem Liebling Gluck keinen Gefallen mit seinen langsamen, weihevollen Interpretationen.
Dass es anders geht, beweisen Dirigenten wie Ivor Bolton und vor allem Marc Minkowski. Der Franzose ist seit Jahren in «Glück»-Mission unterwegs und liefert grossartige Interpretationen, etwa von « Iphigénie en Tauride » oder « Armide ». Edel und still ist da gar nichts, sondern ausdrucksstark und voll extremer Emotion. Das entspricht vielleicht nicht Glucks Absichten, kann aber auch ein heutiges Publikum erreichen und fesseln.