«Erwarten Sie Wunder!», so lautet der Titel von Kent Naganos Biografie. Darin verspricht der Musikdirektor des Symphonieorchesters Montréal nichts Geringeres, als dass uns Klassik aus der Krise führen wird – der Krise einer sinnentleerten Gesellschaft.
Grosse Worte eines grossen Maestros. Im Gespräch mit dem Amerikaner mit japanischen Wurzeln wird rasch klar: Nagano wählt seine Worte überlegt und bewusst. Das Versprechen des Dirigenten, der Musik und Soziologie studierte, ist kein feuriges Plädoyer, sondern zeugt von jahrelanger Erfahrung, Intellekt und tiefer Überzeugung.
Musik löst Grenzen auf
Nagano wuchs in einem Fischerdorf an der Westküste Kaliforniens auf. In Morro Bay hatten sich Einwanderer unterschiedlichster ethnischer und kultureller Herkunft niedergelassen. Musik war das verbindende Element, half über Konflikte hinweg, förderte den Gemeinschaftssinn. Aktives Musizieren gehörte in Morro Bay zum Alltag und zur Erziehung. Jedes Kind hatte die Möglichkeit, ein Instrument zu erlernen. Nagano: «Das war eine grossartige Chance. Uns Menschen sind immer Grenzen gesetzt: durch Berge oder ein kleines Dorf, selbst das Meer ist eine Begrenzung. Musik hingegen ist Freiheit. Durch sie lösten sich in meiner Kindheit alle Grenzen auf. Sie öffnete den Horizont und setzte Fantasie frei.»
Gross und Klein mit dem «Klassik-Virus» infizieren
Auch heute kennt Nagano keine Grenzen. Geht es um Bach oder Mozart, reist der Verfechter der klassischen Musik selbst in die kanadische Arktis, um Inuit-Kindern die «Kleine Nachtmusik» näher zu bringen. «Als Kind hat man noch keine Zeit gehabt, Vorurteile zu entwickeln, einen Status Quo zu definieren. Die Beziehung zur Musik ist noch absolut spontan und rein.» Für 2016 plant er in Montréal-Nord, wo materielle Armut und Bildungsferne vorherrschen, einen musikalischen Kindergarten.
Doch auch die Erwachsenen will Nagano mit dem «Klassik-Virus» infizieren. Dafür verlassen er und seine Musiker schon mal das Konzerthaus. Sie gehen dorthin, wo sich fast jedes kanadische Kind zuhause fühlt: Im Eishockeystadion spielen sie Beethovens Symphonie Nummer 5. Dem Chefdirigenten ist klar: Will man die klassische Musik erhalten, muss man neue Wege gehen, kreativ und innovativ sein.
Klassik ist so komplex wie das Leben
Klassische Musik sei nicht, wie heute leider oft behauptet werde, Liebhaberei einer gesellschaftlichen Elite. «Bach oder Beethoven: ihre Musik war für alle gedacht. Sie war Kommunikation, ein Statement, ein Vermittler demokratischer Ideale.» Nagano ist davon überzeugt, dass in den Meisterwerken grosser Komponisten existentielle Fragen der Menschheit verhandelt und Werte vermittelt werden. Beethovens Sinfonien beispielsweise würden für die Auseinandersetzung mit den grossen humanistischen Ideen stehen. Die Aussagen, die Beethoven in musikalischer Sprache treffe, seien zeitlos. «Damals ahnte ich zum ersten Mal, dass die Freiheit des Menschen und sein Recht auf Selbstbestimmung keine Selbstverständlichkeit sind.»
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Naganos Fazit: Geht die klassische Musik verloren, gefährden wir unsere Gesellschaft. Setzen wir uns mit klassischer Musik auseinander, werden wir wieder zusammen- und aus der grassierenden Sinnleere herausausfinden. Denn: Nur die klassische Musik sei so komplex, wie das Leben, habe Substanz und Tiefgang. Unterhaltungsmusik habe diese Kraft nicht, so Nagano.
Von nichts kommt nichts
Nagano ist sich bewusst, dass der Zugang zur ernsten Musik und die Auseinandersetzung mit ihr oft Anstrengung, sogar Mühsal bedeutet. Doch die Belohnung sei garantiert. Oder, wie Nagano sagt: «In der klassischen Musik geht es den Berg zuweilen ziemlich steil hinauf. Aber oben auf dem Gipfel eröffnet sich ein herrlicher Blick.»