Die Erwartungen waren gross – grösser als bei irgendeinem Album von Bob Dylan seit den 1960er-Jahren. Seit 2012 hat der mittlerweile 79-jährige Poet und Sänger kein eigenes Material herausgegeben.
Es gab ausführliche Sammlungen mit Songs aus dem «Great American Songbook», die man gemeinhin mit Frank Sinatra verbindet. Und es gab den Literatur-Nobelpreis, der von vielen mit Kopfschütteln zur Kenntnis genommen wurde.
Wie aus dem Nichts
Nun liegt das 39. Album vor. «Rough and Rowdy Ways» hört sich an wie ein verspätetes Argument für die literarische Auszeichnung – und noch viel mehr.
Im März erschien wie aus dem Nichts ein neues Stück von Dylan. Und was für eines! «Murder Most Foul» ist 17 Minuten lang, die Musik eine Sound-Leinwand mit sparsam gesetzten klanglichen Farbtupfern.
Ein idealer Background für die knarzige, verlebte und doch ungeheuer intensive Stimme Dylans, der auf eigene Art eine kulturelle und soziale Geschichte des 20. Jahrhunderts in den USA erzählt.
Von JFK bis Freddy Krueger
Ausgangspunkt für den Song ist der «schreckliche Mord» an Präsident John F. Kennedy. Mit einem endlosen Schatz an Zitaten – von den Beatles über den Horrorfilm «Nightmare on Elm Street» bis zum Shakespeare-Motiv aus «Hamlet» entwirft Dylan ein riesiges Panorama, das auch für das Heute wichtig scheint.
«Murder Most Foul» war mit seinem unglaublich reichen Schatz an Anspielungen, Verweisen und Zitaten ein passender Vorgeschmack für das Album «Rough and Rowdy Ways».
Das Album wird von einem ähnlich sparsam gesetzten Musiktrack eröffnet: In «I Contain Multitudes» scheint Dylan über sein eigenes Wesen zu sinnieren, über seine Vorlieben für Indiana Jones, die Rolling Stones, Edgar Allen Poe, Chopin und Beethoven: «Ich bin ein Mann der Gegensätze, ein Mann der vielen Stimmungen» singt Dylan, als gelte es, sein eigenes Leben zu resümieren.
Eher ruhig als «rowdy»
Waren die letzten Alben von Dylan geprägt von schwungvollem Western Swing, Blues und Rock, geht es hier – trotz des Titels – eher ruhig und getragen zu.
«Goodbye Jimmy Reed» ist einer der wenigen Titel, die den rauen und lustvollen Charakter des Titels rechtfertigen: Ein roher Jump Blues hüpft hier aus der Jukebox und lockt mit ungewohnt deutlichen sexuellen Zeilen auf die Tanzfläche.
«Rough and Rowdy Ways» ist unverkennbar das Alterswerk eines weisen Troubadours, der Bilanz zieht. Der sich Gedanken macht darüber, wie die Zeitläufte sein Werk geprägt haben und über das Leben und die Liebe nachdenkt, in einer anfangs undurchdringlich scheinenden Menge von Informationen und Verknüpfungen.
Es wird Zeit brauchen, diese Flut zu durchdringen und das Gesamtbild dahinter zu erfassen. Das Meisterwerk dahinter erspürt man bereits.