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Sophie Hungers «Molecules» Hunger nach der Hauptstadt

Das neue Album von Sophie Hunger horcht in die Seele von Synthesizern und erzählt vom Leben in Splittern. «Molecules» ist auch eine Hommage an Berlin.

Sophie Hunger steht an einer Berliner Bar, es ist Winter und die Musik krachig. Ein Besucher will sie in ein Gespräch verwickeln. Statt ihn abzuwimmeln, bezahlt sie ihm die Getränke.

In ihrer Musik macht sie es genauso: Sie stellt Nähe her, um Distanz zu wahren. «Molecules», ihr sechstes Album, ändert nichts an diesem Hunger-Prinzip, klingt aber ganz anders.

Synthesizer anstatt Gitarre

Der von Folk und Jazz informierte Sound weicht auf dem neuen Album dem kalten Klirren, widerspenstigen Knarzen und der künstlichen Wärme von alten Synthesizern und Schlagzeugcomputern. Ihre Stimme und die Gitarre mit Stahlsaiten erden das musikalische Update.

Einmal mehr hat Hunger eine Band verlassen und ein neues Klangkostüm entworfen. Die Kunst wiegt schwerer als die Freundschaft. Das wirkt bei ihr weniger kaltschnäuzig als konsequent: Die synthetische Musik hat einen thematischen Hintergrund.

Das Leben unter dem Mikroskop

Denn was auf «Molecules» zersplittert, sind die Bindungskräfte – die sozialen, wie die privaten. Vor drei Jahren zog die Schweizer Sängerin nach San Francisco, sie heulte den weiten Ozean an und sinnierte über den Mond.

Das Album «Supermoon» sang aus der Makroperspektive. Auf dem neuen Album erzählt sie vom Gegenteil. Hungers sechstes Werk seziert das irdische Leben unter dem Mikroskop.

Von Atomen ist die Rede in «The Actress», aber die hektischen Elementarteile unserer Existenz sind nur ein Bild, wie sich zwei Liebende verfehlen. «She Makes President» handelt von weiblichen Genen und ist ein weiteres Beispiel, wie sich Hunger gegen Geschlechterklischees wehrt. Dass alles rast und zerbirst, liegt auch an der beschleunigten Wahrnehmung in der Grossstadt. «Molecules» ist ein Berlin-Album.

Alles auf Englisch

Die deutsche Hauptstadt spielt auf dem Album eine laute Rolle, wie es ihre Art ist. Berlin, Hungers neue Heimbasis, spielt gleich auf mehreren Ebenen mit. Sie gibt ihren bisherigen Sprachenmix aus Deutsch, Englisch, Französisch und Schweizerdeutsch auf und wechselt ganz ins Englische.

So klingt Berlin heute in der Mitte. Die einzigen zwei deutschen Sätze auf dem Album: «In Deinen Sünden Trost zu finden / Berlin, Du Deutsches Zauberwort.» In «Electropolis» ist Berlin ein Hintergrund für Hungers Film Noir und klingt dabei wie ein Krimi aus den späten 70er-Jahren.

Techno, Elektro und Krautrock

In Berlin gab es viel experimentelle Synthesizer-Musik. Teile des berühmten Clublebens der Gegenwart berufen sich ebenfalls auf die Avantgarde von damals, auf «Tangerine Dream» oder die «Einstürzenden Neubauten». Und im schnellen «Tricks» gibt es den nähmaschinenartigen Beat, wie man ihn von Krautrock-Bands kennt.

Berlin und das Nichts

Zu grossartiger Form läuft «Molecules» am Ende auf. Auf «That Man» und «Cou Cou» verbindet Hunger ihr dunkel funkelndes Berlin-Atom mit einem zerschossenen Beziehungsmolekül.

Sie singt so direkt und zärtlich wie noch nie über einen Mann, doch der «palace of abyss» könnte auch die Stadt sein – Berlin als Palast des Abgrunds. Sie weiss, dass hier auch touristische Klischees lauern, die zur Nichtigkeit neigen. Aber das Nichts, ein Lieblingswort von Hunger, entlastet auch vor zu viel Fülle, vor Kummer und Elend.

«Molecules»

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Sophie Hungers neues Album «Molecules» ist ab dem 31. August 2018 auf dem Markt.

Die Wunde heilt nur, wenn man sie erst einmal offen lässt. Oder wie sie im zentralen Stück «Electropolis» singt: «Here it is again, NOTHING. Time heals nothing.» Die Zeit heilt nichts, und gleichzeitig: Die Zeit heilt das Nichts. «Molecules» rast zwischen Trost und Schmerz so schnell hin und her wie Elektronen um ein Atom.

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