Wer meint, die Bestände der Musikbibliotheken dieser Welt seien lückenlos katalogisiert, irrt. Von Venedig über Paris bis St. Petersburg gibt es sie noch, die schlafenden Dornröschen, die unentdeckten Manuskripte. Nur finden muss man sie – und vor allem als solche erkennen.
Staub, Blut und Tränen
Ein typischer Archivaren-Traum geht so: Man verliert sich per Zufall im Keller der Bibliothek, entdeckt ein unbekanntes Zimmer mit stapelweise ungesichteten Noten, beginnt zu blättern und hält plötzlich ein Manuskript in der Hand, das einem abwechslungsweise das Blut stocken lässt und die Tränen in die Augen treibt.
Das verschollene Werk eines Meisters! Ganz ähnlich hat es sich bei der Wiederentdeckung von Igor Strawinskys «Chant funèbre» zugetragen.
Ein Umzug bringt's ans Licht
Im Frühling 2015 wurden in der Bibliothek des St. Petersburger Konservatoriums die Lagerbestände der Musikabteilung an einen neuen Ort gezügelt. Dabei musste auch ein Hinterzimmer ausgeräumt werden, das jahrzehntelang mit Stapeln von Noten und Manuskripten zugestellt war.
Und siehe da, zuhinterst im Zimmer lag er: ein vollständiger, nicht katalogisierter Stimmensatz des «Chant funèbre» von Strawinsky. Jubel!
Auch der Komponist selbst hätte wohl frohlockt, wäre das Ganze etwas früher ans Licht gekommen – und nicht erst 107 Jahre nach der ersten Aufführung.
Neugierig auf das Verlorene
Der Komponist vermisste dieses Werk ausserordentlich. So schrieb er in seinen Memoiren: «Unglücklicherweise ist die Partitur dieses Werkes während der Revolution in Russland verlorengegangen, wie so vieles andere, das ich dort gelassen habe.»
Und weiter: «Die Orchesterstimmen sollten sich noch in irgendeiner der St. Petersburger Orchesterbibliotheken vorfinden; ich wünschte mir, dass irgendjemand in Leningrad einmal danach suchte, denn ich wäre selbst neugierig zu sehen, was ich unmittelbar vor dem ‹Feuervogel› komponiert habe.»
Frühes Schlüsselwerk
Für den Strawinsky-Biografen Bertrand Dermoncourt ist der «Chant funèbre» ein Schlüsselwerk, Strawinskys erste ganz persönlich geprägte Arbeit. Alles davor sei noch klar hörbar unter äusseren Einflüssen entstanden, in Anlehnung an andere Komponisten und Stile.
Trauerzug für ein Idol
Strawinsky selbst verlor diese Musik aus dem Gedächtnis, aber er erinnerte sich an den Gedanken dahinter:
«Ich entsinne mich sehr gut noch der Idee, die der Musik zugrunde lag. Es war ein Trauerzug aller Soloinstrumente des Orchesters, von denen eines nach dem anderen seine Melodie wie einen Kranz auf das Grab des Meisters legte. Dieser Gesang hob sich ab von dem ernsten Hintergrund eines Tremolo, dessen Gemurmel den vibrierenden Bassstimmen eines Trauerchors glich».
Mit dem Meister meint Strawinsky hier seinen geliebten Lehrer Nikolaj Rimski-Korsakow, an dessen Gedenken er dieses Totenlied geschrieben hat.
Nun wurde das Werk wieder zum Leben erweckt: Diesen August erklang der «Chant funèbre» als Schweizer Erstaufführung im Luzerner KKL.