Richard Wagner betritt Ende Mai 1849 in Rorschach Schweizer Boden und ist in Sicherheit. Hinter ihm liegt eine überstürzte Flucht durch Deutschland, da er wegen seiner Teilnahme am Dresdner Maiaufstand steckbrieflich gesucht wird und nur knapp einer Verhaftung entgangen ist. An der Grenze staunt er erstmals über die «schneeweissen Alpengletscher», in Zürich angekommen preist er die «niegedachten Schönheiten dieses herrlichen Landes» sowie «Wohlstand» und «Freiheit». Gleichzeitig bezeichnet er die Stadt erst einmal als «von aller Kunst gänzlich entblösst».
Der Briefschreiber logiert derweil zwei Nächte an erster Adresse. Das Hotel Schwert am Weinplatz 10 ist eines der meist gerühmten Hotels Europas und beherbergt internationale Prominenz aus Kultur und Politik. Darunter Zar Alexander von Russland und Louis Napoléon, 1839 Victor Hugo und am 28./29. Mai 1849 der aus Dresden geflüchtete Wagner – ein mittelloser Kappellmeister. Zu Recht wird er als «Pumpgenie» in die Geschichte eingehen, weiss er doch stets Menschen für sich und seine hochfliegenden Pläne zu gewinnen.
Wagner als Musikschriftsteller
In Zürich gilt es, mit den richtigen Leuten in Kontakt zu treten. Hier finden sich nicht nur mittellose Revolutionsflüchtlinge aus Deutschland, sondern auch Intellektuelle wie etwa der Staatswissenschaftler und Staatsschreiber Johann Jacob Sulzer, Mäzene wie der Textilfabrikant Otto Wesendonck und die Literatin Mathilde Wesendonck, Institutionen wie die Allgemeine Musik-Gesellschaft und das dazugehörige Orchester sowie das 800plätzige Aktientheater.
In den ersten Jahren ist Wagner vor allem als Musikschriftsteller tätig, wobei der stillgelegte Komponist einen regelrechten Furor entwickelt. Die wirkungsmächtigsten Titel sind «Die Kunst und die Revolution»(1849), «Das Judentum in der Musik» (1850), «Oper und Drama» (1851) sowie die Textbücher seines Opernzyklus’ des «Ring des Nibelungen», die er 1853 als Privatdruck vorlegen kann. Höchste Zeit also, sich dem Zürcher Publikum als Librettist seiner zukunftsweisenden Opern vorzustellen.
«Ring»-Dichtung im «Baur au Lac»
Durch Vermittlung des inzwischen befreundeten Ehepaars Wesendonck findet im «Petit Palais» des Hotel «Baur au Lac» die erste öffentliche Lesung der «Ring»-Dichtung statt. Der Festsaal des Hotels wird noch ein weiteres Mal zum Schauplatz eines musikhistorischen Ereignisses. 1856 geht dort die konzertante Uraufführung des ersten Akts der «Walküre» über die Bühne. Am Klavier sitzt Franz Liszt, Richard Wagner markiert die Partien des Siegmund und Hunding, und die bekannte Zürcher Sängerin Emilie Heim singt die Partie der Sieglinde.
Richard Wagner ist in Zürich inzwischen gut vernetzt. Als Dirigent kann er Fragmente eigener Werke in Konzerten der Allgemeinen Musikgesellschaft aufführen und als Privatmann schmiedet er Pläne, um in der Stadt sesshaft zu werden. Ein eigenes Haus etwa schwebt ihm vor, obwohl er schliesslich ab Sommer 1857 zusammen mit seiner Frau Minna Wagner Planer im Nebenhaus der Villa Wesendonck wohnt – weitaus komfortabler, als er es in seiner Autobiographie glauben machen will. «Das Häuschen» ist ein ansehnliches Riegelhaus, wird für die ganzjährige Benutzung wintertauglich gemacht und von den Wesendoncks gegen einen symbolischen Mietzins zur Verfügung gestellt.
Die Affäre Wesendonck
«Überall hielt ich Monologe», heisst es an einer bemerkenswerten Stelle in den von Cosima Wagner verfassten Tagebüchern. Wagner soll 1872 offen wie nie über seine Beziehungsnot gesprochen haben, als er ein Arrangement der «Wesendonck-Lieder» zugeschickt bekommt. «Es ist mir mit meinen sogenannten Liebschaften so gegangen wie mit meiner Heirat», liest man bei Cosima, «ich bin ohne jeglichen Einfluss auf sie geblieben». Das klingt wenig glaubwürdig, hingegen zeugt der Verweis auf den Monolog (anstelle des Dialogs) in Beziehungen von einer durchaus realistischen Selbsteinschätzung.
Die unerlaubte Liebesbeziehung mit Mathilde Wesendonck ist weit mehr als eine erotische Affäre, trifft Wagner doch in ihr eine Frau auf Augenhöhe und vertont (ausgenommen in einigen frühen Liedern) zum einzigen Mal fremde Texte. Fünf Gedichte der literarisch tätigen Mäzenin sind in die Musikgeschichte eingegangen, darunter «Träume», das 1857 als Arrangement für Sologeige und Kammerorchester im Treppenhaus der Villa Wesendonck erklungen ist. Wagner wird die Bedeutung dieser Beziehung nach dem Verrauchen des Skandals herunterspielen und (unterstützt von Cosima) Spuren vernichten.
Die in Zürich entstandene und überlieferte Korrespondenz mit Mathilde Wesendonck enthält nämlich vorwiegend Nebensächlichkeiten wie kurze Grussworte und Einladungen zum Abendessen. Wagner verlässt nach einem Eclat vor dem «ganzen Haushalt» der Wesendoncks Zürich wie er angekommen ist: als Flüchtling – diesmal vor der Liebe.