Die Musikgeschichte hat unter den Komponisten immer wieder Antipoden geschaffen. Fiktive, reale. In Paris etwa stellten sich um 1770 Anhänger des Opernreformers Christoph Willibald Gluck dem heute vergessenen Gegenspieler und Komponisten Nicolo Piccinni entgegen.
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Von dem vermeintlich konservativen Sinfoniker Brahms distanzierten sich hundert Jahre später Anhänger Richard Wagners. Wagner, der fortschrittliche Musikdramatiker wurde zur Galionsfigur. Ebenfalls im Brahms'schen Lager verorteten die Musikpublizisten jener Zeit auch den zehn Jahre älteren Anton Bruckner.
Heute rechnen Kenner und Connaisseurs der sinfonischen Klangkunst Bruckner einer anderen Antipode zu: Gustav Mahler. Stellvertretend für Mahler und Bruckner, die nicht einmal zur selben Zeit gelebt haben, spaltet die Musikwelt das Lager in Bruckner- und Mahler-Interpreten. Ein guter Mahler-Dirigent soll keinen Bruckner dirigieren können. Und umgekehrt. Eine mehr als fragliche Theorie.
Sowohl Mahler wie auch Bruckner
Er sei ein Mahler-Dirigent, heisst es von Claudio Abbado. Tatsächlich hat Abbado am Lucerne Festival, wie auch zuvor in seiner Zeit in Berlin oder Wien, mehrfach bewiesen, dass er seinen Mahler im Griff hat. Ebenso ist Abbado aber auch mit den Sinfonien eins, vier, fünf und sieben Anton Bruckners in Luzern aufgetreten. Bruckner-Dirigent? Mahler-Dirigent? Beides?
Abbado jedenfalls ist einer, der sowohl die sich grossartig aufschwingenden Architekturen Bruckners zeigen kann, wie auch die schmerzliche Zerrissenheit Mahlers, das heiter Jubelnde, das todesnahe Abgründige, herauszuheben vermag. Und das, um es schliesslich einer Synthese zuzuführen.
Unvergessen jedenfalls sind die Klänge des Finales von Gustav Mahlers «Auferstehungssinfonie». Mit dieser Sinfonie stellte Abbado 2003 das von ihm neu gegründete Lucerne Festival Orchestra dem staunenden Publikum vor. Ein Orchester übrigens, das im Kern aus Mitgliedern des Gustav Mahler Jugendorchesters besteht. Das Chorfinale dieser zweiten Sinfonie von Mahler wuchs in der Aufführung im KKL über sich selbst hinaus, es glühte vor Intensität: war Bekenntnis zum Leben.
Kein frömmelnder Einfaltspinsel
Und um genau das geht es – grob gesprochen – auch im sinfonischen Schaffen Anton Bruckners. Um ein Lebensbekenntnis. Das Bekenntnis allerdings eines Mannes, der in seinem Glauben wesentlich ungebrochener war als der Skeptiker Gustav Mahler. Wenngleich auch Bruckner mit seinem Gott haderte, und das Klischee des frömmelnden Einfaltspinsels vom Lande gewiss falsch ist.
So zitiert etwa Bruckners Arzt Richard Heller den alternden Komponisten der Neunten wie folgt: Bruckner habe während der Komposition «mit dem lieben Gott einen Kontrakt abgeschlossen. Wenn der liebe Gott will, dass er die Symphonie, die ja ein Preislied Gottes werden sollte, fertigmache, so müsse er ihm ebenso lange das Leben schenken; stürbe er früher, so hat sich das der liebe Gott selber zuzuschreiben, wenn er ein unvollendetes Werk bekommt.»
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Der Reiz des Unvollendeten
Gott also ist «schuldig», dass Anton Bruckner seine letzte Sinfonie nicht fertigstellen konnte. Überprüfen lässt sich das nur schwerlich. Fakt ist: Bruckner stirbt über der Komposition seines letzten Finalsatzes und hinterlässt einen Berg Manuskripte, aus dem Musikwissenschaftler heute das Finale verschiedentlich rekonstruieren. In Aufführungen werden solche Final-Konstruktionen öfters, aber nicht zwingend immer gespielt.
Ebenfalls als Torso hat Franz Schubert seine «Unvollendete» hinterlassen. Schubert bricht die Arbeit an dieser Sinfonie in h-Moll 1822 nach dem zweiten Satz ab. Um eine Auftragsarbeit anzunehmen, sagen die einen. Weil er in den ersten zwei Sätzen alles «gesagt» habe, meinen die anderen. Gegen diese Theorie spricht, dass Schubert einen dritten Satz immerhin skizziert hat.
Wie dem auch sei: Gerade das Unvollendete birgt seine Reize. Beide «Unvollendeten», diejenige Schuberts, wie Bruckner Neunte, sind heute sinfonisches Standardrepertoire.