Sie sind bei Interpretinnen und Dirigenten mässig beliebt: die Lieblingsmelodien der Massen. Ausgelatschte Pfade mit neuem Ansatz zu betreten, ist eine Herausforderung. Dabei zu wissen, dass mit grosser Wahrscheinlichkeit die immer gleichen Bilder beim Publikum im Kopf ablaufen, hilft kaum.
Im Fall des «Adagietto» aus Mahlers 5. Sinfonie sind es jene Bilder: Der Blut schwitzende Aschenbach im Liegestuhl des Lido von Venedig. Sein Ableben am Strand mit dem flirrenden Horizont über der Lagune. Der Abschiedsgruss des überirdisch schönen Tadzio, dem Objekt seiner Begierde.
Katalysator Visconti
Regisseur Luchino Visconti stilisierte für seine cineastische Version von «Tod in Venedig» (1971) Thomas Manns tragischen Dichter Aschenbach um, indem er ihm die Züge Gustav Mahlers gab. 100 Jahre nach Mahlers entnervter Äusserung – niemand verstehe die verfluchte 5. Sinfonie – wird so sein Werk dank der jüngeren Filmgeschichte zelebriert und geliebt.
Ohne Viscontis cineastisch brillante, melodramatische Stilisierung von Begehren und Tod wäre das «Adagietto» kaum dermassen zur Schnulze verkommen. Was es eigentlich gar nicht ist. Denn die Interpretation macht den Unterschied, wie die Schweizer Dirigentin Lena-Lisa Wüstendörfer einleuchtend zeigt.
Biografisches Schmiermittel
«Tod in Venedig»
Spekulationen um biografische Verstrickungen des Komponisten helfen bei der Überhöhung von Tondichtungen. Bis in kleinste Details wurde beschrieben, wie im «Adagietto» metaphysische und sexuelle Umklammerung zu Musik werden. Immerhin entstand diese Komposition kurz nach Mahlers grösster Lebenskrise. Geschockt von seinem gesundheitlichen Zusammenbruch, der ihn an den Rand des Todes brachte, fand er zurück ins Leben.
Die aufflammende Zuneigung zu Alma war eine regelrechte Auferstehung. Der Komponist heiratete, wurde Vater. Noch bequemer kann man nicht eingeladen werden zur Deutung: Dieser 4. Satz der 5. Sinfonie kann nichts anderes sein als eine Liebeserklärung. Oder sich verzehrende Begierde. Oder der Hauch der Ewigkeit. Deshalb erklingt Mahlers Musik oft an Abdankungen. Wenn auch selten – wie im Falle Bobby Kennedys – von Leonard Bernstein persönlich dirigiert.
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Ästhetik der Zerrissenheit
Innerhalb der wuchtigen 5. Sinfonie hat das «Adagietto» eine starke Funktion: Es hält die Zeit an, bevor das Rondo als letzter Satz in frenetische Bewegung und Dynamik übergeht. Hier liegt wohl ein Schlüssel für die begeisterte Rezeption dieses Tongedichts in der Neuzeit; dies dokumentieren die Fanbekenntnisse im Web.
Mahler war vernarrt in Volksweisen, und er liess in seinen Werken elegischen Schönklang und Polyphonie bis zum Rand der Atonalität aufeinanderprallen. Damit brachte er die auseinanderstrebenden Kräfte seiner Zeit grandios zusammen. Mit der neuzeitlichen Erfahrung der gottfernen, bis zur Überforderung vielschichtigen Moderne finden wir – offene Ohren vorausgesetzt – in Mahlers Sinfonien eine überraschende Heimat. Oder mindestens einen emotionalen Ankerplatz in der Nähe von einem, der sich aus stürmischen Gewässern hierher gerettet hatte.