Gerade ist die Sonne blutrot im Bodensee versunken, da umkreist noch vor der Ouvertüre zur «Zauberflöte» eine Gondel die Seebühne. Sie trägt einen offenen Sarg, an dem ein weissgekleidetes Mädchen schluchzend trauert. Doch als die Ouvertüre einsetzt, bricht ein Höllenspektakel los: Phantastische Gestalten, halb Tier halb Mensch, entführen das Mädchen – offensichtlich im Auftrag eines goldgeschmückten Herrschers, der sich später als Sarastro entpuppt.
Vorgeschichte steht im Zentrum
Was erst später richtig klar wird: Regisseur David Poutney inszeniert hier die Vorgeschichte zur «Zauberflöte». Sie bleibt sonst immer etwas unklar und nebensächlich, bildet hier aber den Kern der Geschichte.
Pountney wird deswegen später das Stück sogar mit einer ganzen zusätzlichen (gesprochenen) Szene erweitern, um seine Sicht der Handlung darzustellen: Zwei Königreiche kämpfen um die Macht. Das eine inszeniert sich mit dem Dunkel der Nacht (Königin), das andere mit dem Licht des Tages (Sarastro). Beide haben ihre skrupellose Seite: Die Königin der Nacht stiftet ihre Tochter zum Mord an, Sarastro lässt seinen Doppelgänger-Sklaven Monostatos als Sexmaniac gewähren.
Eine Schildkröte und wilde Kerle
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Bevor wir aber die Schärfe dieser Analyse mitbekommen, sehen wir ganz Anderes, anscheinend Harmloses. Die Seebühne liegt als eine Art Riesenschildkröte im Wasser. Auf ihrem Rücken richtet sich ein Wald von grünen Farnen auf, in dem Papageno anscheinend wohnt und Tamino sich verirrt.
Dominiert wird die Bühne optisch aber von drei aufgerichteten hundeähnlichen Riesenfiguren. Sind wir hier vielleicht im Wald, «wo die wilden Kerle wohnen»? Auf jeden Fall strahlt Poutneys Inszenierung – ähnlich wie Maurice Sendaks Kinderbuch – oft die Atmosphäre eines phantastischen und auch bedrohlichen Märchens aus: Eine grüne Riesenseeschlange taucht aus dem Wasser auf, die Damen der Königin reiten auf Dinosauriern mit Schnäbeln, die Geharnischten auf riesigen Einhörnern. Überhaupt die Tiere! Der Regisseur macht sie mit Bildern und Soundeffekten zum eigentlichen Leitmotiv der Oper.
Drastische Eingriffe ins Werk
Man kann zwar angesichts von David Poutneys zum Teil drastischen Eingriffen ins Werk – Kürzungen, Umstellungen, Zutaten, manchmal auch etwas ein Overkill an Effekten – die Stirne runzeln. Doch ist es ihm gelungen, die «Zauberflöte» plausibel sowohl als Märchen wie als utopische Weltgeschichte zu zeigen.
Nachdem die beiden Königreiche untergegangen sind, tritt der neue Mensch hervor, und zum ersten und einzigen Mal tritt der am Schluss der Chor auf – mitten im Publikum. Und zum Glück bleibt dem idealen Paar Pamina und Tamino mit Papageno und Papagena auch etwas animalische Wärme erhalten.
Am Premierenabend dirigierte Patrick Summers mit viel Schwung und frischen Tempi die Wiener Symphoniker und ein schauspielerisch wie sängerisch kompetentes Ensemble. Die Hauptrollen wurden auf der Bühne gesungen, die mit allerlei Stunts bedachten Nebenrollen dagegen im Haus, wo auch das Orchester spielt. Am Mischpult machte Tonmeister Wolfgang daraus und mit zahlreichen Klangeffekten ein überzeugendes Gesamtklangbild.
Rarität wird uraufgeführt
Nach dem Hit auf dem See die Rarität im Haus. Gegensätzliche Welten wie Mozarts «Zauberflöte» zeigt auch die Oper «The Merchant of Venice» von André Tschaikowsky (1935–1982). Der polnisch-jüdische Komponist und Pianist liess sich nach dem Zweiten Weltkrieg in England nieder, begann eine Konzertkarriere, der er sich halb widmete und halb entzog. Mehrere Jahre verbrachte er mit der Vertonung eines Stücks des von ihm bewunderten Shakespeare. Das Werk erlebte erst jetzt in Bregenz seine Uraufführung.
Warum Tschaikowsky – als Jude – sich gerade das Stück mit der nicht ganz unproblematischen Figur des Juden Shylock aussuchte, ist etwas ein Rätsel. Shylock verlangt als Pfand für einen Kredit an den ihn konsequent demütigenden Kaufmann Antonio ein Pfund von dessen Fleisch, wenn der Kredit nicht zurückgezahlt werden kann. Als es soweit kommt, insistiert Shylock auf der Erfüllung des Vertrags, zieht dann aber doch den Kürzeren und wird schliesslich in den Ruin getrieben.
Kein genuiner Musikdramatiker
Mit dieser Tragödie kontrastiert extrem der zweite Handlungsstrang, eine etwas frivole Komödie auf dem Landsitz Belmont. Es geht darum, dass zwei Paare sich finden und treu bleiben. Während der Komponist für Shylocks Tragik adäquate Töne findet, bleibt seine Musiksprache für das Treiben auf Belmont – möglicherweise absichtlich – eher konventionell und voller Floskeln.
Das Grundproblem scheint aber zu sein, dass Tschaikowsky möglicherweise ein talentierter Komponist war, aber nicht wirklich ein genuiner Musikdramatiker. Ob sich seine Oper auf der Bühne als überlebensfähig erweist, scheint also – zumindest nach einmaligem Hören – etwas fraglich.
Personenführung und Akrobatik
Das scheint auch der versierte Regisseur Keith Warner (der schon früher in Bregenz inszenierte) gespürt zu haben. Seine meist kühl-elegante Inszenierung – schlichte mattsilberne Kassettenwände stehen sowohl für ein Kontor wie eine Gasse in Venedig, ein grünes und an der Decke gespiegeltes Labyrinth symbolisiert die Liebeswirrungen auf Belmont – lässt er deshalb gelegentlich ins Spektakuläre umkippen: Die Brautwerbung des marokkanischen Prinzen ist eine Akrobatiknummer, im antisemitischen Pöbel in Venedig treten auch SA-Leute mit Fackeln und Ku-Klux-Clan-Gestalten mit Spitzhauben auf.
Das Sängerensemble, mit nicht weniger als acht Hauptrollen, überzeugte mit einer soliden Leistung, ebenso das Dirigat von Erik Nielsen. Die Wiener Symphoniker spielten unter seiner Leitung zuverlässig. Dass es das Orchester mit einer vollständig unbekannten Partitur zu tun hatte, zeigte sich möglicherweise in einer gewissen Distanziertheit im musikalischen Ausdruck. Nichts Derartiges zeigte sich beim Sänger und Darsteller des Shylock: Adrian Eröd fesselte durch seine packende Charakterisierung.