Kennen Sie den österreichischen Horrorfilm «Ich seh ich seh» (2014)? Ein Film von Veronika Franz, 2014, der kindliches Urvertrauen, Mutterliebe und die Sehnsucht nach Geborgenheit durch den Fleischwolf dreht.
Eine Mutter kommt nach einer Schönheits-OP nach Hause, mit Bandagen im Gesicht. Ihre Zwillingssöhne merken, dass sie sich irgendwie verändert hat. Nach anfänglichen Irritationen wächst das Grauen: Ist die Mutter böse? Sind die Kinder verrückt? Das geht nicht gut aus, natürlich nicht.
Eine Meisterin im Erzählen
Die Musik zu diesem Film stammt von Olga Neuwirth, einer Komponistin mit grenzenloser Fantasie. Die Tochter des Jazzmusikers Harald Neuwirth wollte erst selber Jazz-Trompeterin werden, verlegte sich dann aber aufs Komponieren und ist heute eine spannende Musikschöpferin unserer Zeit.
Eine Meisterin im Erzählen, mit untrüglichem Gespür für Dramaturgie, für Zwischentöne und Unausweichlichkeit. Ihre Musik steigert die Abgründe des Films «Ich seh ich seh» ins Unerträgliche und erzählt gleichzeitig eine eigene Geschichte, einen eigenen Film.
Spuren im Schnee
Das ist ein Markenzeichen der Österreicherin, die keine reine Filmkomponistin ist, dieses Genre aber ebenso bedienen kann wie viele andere: Musiktheater und Orchestermusik, Theatermusik, Performance, Solostücke.
In ihren Arbeiten prallen heterogene, auf den ersten Blick unpassende Elemente aufeinander und kaum eine Entwicklung verläuft linear.
Beiträge zum Thema
- Erforscherin der Klangräume (Weltklasse, 24.08.16)
- Ich kann nicht anders! (Musik unserer Zeit, 24.08.16)
- «Ich bin Künstlerin geworden, um frei zu sein» (News, 17.08.16)
- Auftakt Lucerne Festival (Kultur Kompakt, 15.08.16)
- Wortstark und klangfein (Musik für einen Gast, 14.08.16)
- «Wir widmen das Lucerne Festival den Frauen» (News, 11.08.16)
Neuwirth aber zwingt die Materialien in neue Ordnungen und Zusammenhänge. «Wir haben gar keine andere Chance heute», sagt sie.
«Im Schnee sind schon Spuren gelegt. Auch wenn sie verdeckt sind, werde ich auf Spuren treten. Die Frage ist nur, was ich damit mache. Ich muss mir selber und dem gegenüber, was mir die Geschichte geboten hat, einen kritischen Geist haben.»
Zerbrochene Spiegel kleben
Woher kommt dieser Wunsch, Heterogenes in neue Beziehungen zu bringen? Von Gustav Mahler, sagt Neuwirth: «Ich sehe die Welt als Gesamtes als ein zersplittertes Konglomerat. Mich interessiert es, diesen zerbrochenen Spiegel wieder zusammenzukleben. Die Bruchstellen aber werden immer sichtbar sein.»
Durch diese quasi filmische Schnitttechnik, die virtuos und traumwandlerisch sicher Zersplittertes neu arrangiert, entsteht eine beunruhigende Musik.
Da bleiben Instrumentalklänge in bewusster Unschärfe hängen, explodieren in Zeitlupe, und das Vertraute löst sich komplett auf.
Sollte jemand über die Beliebigkeit der Postmoderne klagen und die Frage aufwerfen, wie man denn heute überhaupt noch komponieren könne, dann hilft als Antwort Neuwirths Musik.
Die Künstlerin ist dabei ganz sich selbst: «Ich glaube nicht, dass man mit Kunst etwas verändern kann, aber ich bestehe darauf, zumindest eine Haltung zu haben.»