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Aus dem Archiv: Tom Kummers «Von schlechten Eltern» im Literaturclub
Aus Literaturclub vom 14.04.2020.
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Post von Prominenten Tom Kummer schreibt an das Coronavirus

Wir haben fünf Persönlichkeiten gebeten, ihren Hoffnungsträgerinnen und Hoffnungsträgern für das Jahr 2022 einen Brief zu schreiben – frei Schnauze.

Liebes Virus

Es stimmt schon, was du uns seit einer ganzen Weile mitteilen willst: Wir müssen alle sterben. Irgendwann! Alle!

Wieso aber verbreitetes du diese sinnlose Aufregung? Wieso kannst du die Regierenden nicht davon überzeugen, uns Menschen wenigstens metaphorisch vor den Schrecken deiner tödlichen Kraft zu befreien?

Erfolgswesen wollen immer lächeln, immer gut drauf sein, als ein Zeichen von Optimismus und Zukunftsgläubigkeit. Lächerlich!

Natürlich spreche ich hier als Schriftsteller und Romantiker, der den Kult um die Krankheit gerade in der Literatur zu schätzen gelernt hat. Zu Zeiten der Tuberkulose galt zum Beispiel der melancholische Charakter – oder der tuberkulöse – als ein überlegener: empfindsamer, schöpferischer, ein besonderes Wesen.

Ein Mann mit schwarzer Hornbrille.
Legende: Für mehr Entspannung: Tom Kummer appelliert an das Coronavirus, dass es künftig statt blosse Aufregung zu verbreiten auch Sehnsüchte zu wecken vermag. SRF / Lukas Maeder

Ich weiss, Erfolgswesen wollen immer lächeln, immer gut drauf sein, als ein Zeichen von Optimismus und Zukunftsgläubigkeit. Lächerlich! Die Krankheit war einmal der Weg, langweilige Menschen «interessant» zu machen – und gerade so ist «romantisch» ursprünglich auch definiert worden. «Das Ideal der vollkommenen Gesundheit», schrieb Novalis in einem Fragment von 1800, «ist nur wissenschaftlich interessant». Was wirklich interessiert, ist die Krankheit, «die zur Individualisierung gehört».

Kranksein ist ein Weg, sich von der Welt zurückzuziehen, ohne für diese Entscheidung die Verantwortung übernehmen zu müssen.

Wieso, liebes Virus, zeigen uns die Corona-Verantwortlichen immer nur deine schreckliche Seite. Wieso verweisen sie nicht auf die Vorteile, damit sich die Lage entspannt. «Ich sehe blass aus», sagte der Schriftsteller Lord Byron, als er in Interlaken eintraf. «Ich würde gerne an einer Schwindsucht sterben. Weil die Damen alle dann sagen würden: Seht doch, den armen Byron, wie interessant sieht er als Sterbender aus!» Es war ein Zeichen von Vornehmheit, von Sensibilität, traurig zu sein.

In Thomas Manns «Zauberberg» wird der Bürger erst durch seine Krankheit tatsächlich geistig verfeinert. Romantiker wie Frédéric Chopin, D.H. Lawrence oder Virginia Woolf erfanden das Kranksein als Vorwand für Müssiggang und die Entledigung von bürgerlichen Verpflichtungen zugunsten eines ausschliesslich der Kunst gewidmeten Lebens. Es ist ein Weg, sich von der Welt zurückzuziehen, ohne für diese Entscheidung die Verantwortung übernehmen zu müssen: Das eigene Leben «runterfahren»!

Ich hoffe doch sehr, liebes Virus, dass die Verantwortlichen im neuen Jahr sehr viel mehr über deine Vorteile berichten, die subversiven Sehnsüchte, die tiefere Wahrheit deiner Schreckherrschaft. Damit wir wieder entspannen können.

Tom Kummer

Tom Kummer

Autor

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Tom Kummer (geb. 1961 in Bern) arbeitete lange Zeit als Journalist für grosse Zeitungen und Magazine im deutschsprachigen Raum. Er war insbesondere für Interviews und Reportagen im Hollywood-Umfeld berühmt.

Im Jahr 2000 kam es zu einem Medienskandal, als bekannt wurde, dass Kummer Interviews aus bereits bestehenden Texten neu zusammengesetzt oder erfunden hatte.

2017 erschien mit «Nina und Tom» sein erster Roman. Sein Roman «Von schlechten Eltern» (2020) war für den Schweizer Buchpreis nominiert und wurde als Theaterfassung im Herbst 2021 uraufgeführt.

Nach vielen Jahren in Los Angeles lebt Tom Kummer inzwischen wieder in Bern.

Post von Prominenten: Fünf Briefe an Hoffnungsträger

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Zwei Hände in der Luft, dazwischen eine weiss leuchtende Kugel.
Legende: Getty Images / Paper Boat Creative

SRF 1, Neujahrsansprache mit Bundespräsident, 1.1.2022, 19:25 Uhr

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