12. Januar 1951. «Prominenz beim Wintersport» heisst der Beitrag der Schweizer Filmwochenschau aus dem Engadin (siehe Schweizerisches Bundesarchiv ).
Zielgruppe: die High Society der Insel
Da vergnügt sich der bekannte englische Jockey Gordon Richards, der britische Modeschöpfer Jacques Fath steht mit pelzbestückten Mannequins im strahlenden Azur. Der Beitrag hat eine klare Zielgruppe: die High Society der Insel, die damals grösste und solventeste Community, die saisonal das Engadin besucht.
Jahre später in den fremdenverkehrten 60er-Jahren zeigt das Freitagsmagazin das Nachtleben von St. Moritz. Viel Jeunesse Dorée. Mittendrin: Alfred Hitchcock.
Ein Ort der Durchreise
Aber das Engadin ist weit mehr als schulterfreies Jet-Set-Nightlife in Champagnerseeligkeit. Redet man mit einem ausgewiesenen Fachmann wie Iso Camartin, dann wird schnell klar, wie vielschichtig die Sache mit dem Engadin ist. Von heute aus gesehen, fungierte das Engadin immer wieder als Zufluchtsort. Das ist ein Etikett, das dem Engadin anhaftet.
Das mit der Zuflucht ist für Camartin «vor allem etwas Transitorisches», etwas Flüchtiges. Das Engadin sei «wie jeder Passort ein Ort der Durchreise.» Viele Berühmtheiten hätten hier in wirren politischen Zeiten verweilt. Der Zufluchtsort sei aber kein Bleibeort geworden. Das gilt für Anne Frank wie auch für Richard Wagner.
Verklärter Ort mit magischer Wirkung
Engadin ist Inspiration. Das ist ein anderes Etikett. Camartin sagt, das Engadin sei ein Ort, die «Welt anders zu erleben». Ein Ort hellsichtiger Welterfahrung. Mancher kommt hier zu sich. Mancher mit ungewolltem Resultat. Wahnsinn bricht sich hier flirrend-fiebrige Bahn. Für Nietzsche, der hier bei Badekuren und Faultee tatsächlich durchdrehte, war es «das Land der Verheissung».
Es sei vor allem die Licht- und Lufterfahrung, die Menschen angezogen und ihre Empfindungen beeinflusst habe, sagt Camartin. Von Karl Kraus bis Paul Celan. Thomas Mann war «hier glücklich». Das hat man vom Meister der temperierten Schwermut selten gehört. Marcel Proust war vom Sound der «italienischen Silben» begeistert.
Auch die Maler, so Camartin, hätten «ihren Teil zur Verklärung beigetragen – von Segantini, Hodler, Max Ernst bis Giacometti». Die Verklärung sei aber einem wie Rilke zuviel geworden, sagt Camartin. Der habe sich lustig gemacht mit Sätzen wie: Das Staunen triefe im Engadin von den Felswänden.
Das Engadin als Projektionsort
Wieviel tatsächlich am Engadin liege, sei schwer zu sagen. Es gebe heute Menschen, die einmal im Jahr anreisten, um einen glücklichen Moment zu erleben. Noch immer hafte dem Engadin die verheissene Wirkung an, die Wagner so beschrieb: «Ich empfing die Heiligkeit der Öde der fast gewaltsam beschwichtigenden Ruhe.»
Bei sachlichem Lichte besehen, sagt Camartin, sei das Engadin «ein Projektionsort, eine Seelenlandschaft, die erweist sich manchmal als eine Fata Morgana der eigenen Sehnsucht.»
Das Engadin als Kulturbetrieb
Das Engadin sei heute eine Adresse für gute und bessere Zeiten, konjunkturell hochproduktiv, kulturell ein Traumort von und für Künstler: Die Gegenwart von Vergangenheit, die Lebendigkeit kulturellen Lebens mit Galerien, Museen, kulturellen Attraktionen, Veranstaltungen wie den Engadin Art Talks und und und.
Der strukturelle und soziale Wandel, der andere Täler Graubündens hart getroffen habe, was man an der Schliessung von Kindergärten, Schulen und der Zusammenlegung von Altenheimen ersehen könne, all das sei am Engadin vorbeigegangen.
«Ums Engadin mache ich mir keine Sorgen» sagt Iso Camartin dazu.