«Hier», ruft der uniformierte Beamte, dem ich, vorbei an verschneiten Tannen, einige Zeit durch die Nacht nachgestapft bin. «Genau hier verläuft die Grenze.» Tatsächlich: Im Licht unserer Taschenlampen tauchen plötzlich in einer kleinen Lichtung zwei genau gleich grosse Holzpfosten auf.
Fast andächtig stehen wir zunächst still neben dem in blau-weiss gehaltenen Pfosten und seinem grün-roten Zwilling, der in gut fünf Metern Entfernung aus dem Schnee ragt.
Wohlergehen schlägt Wohlhaben
Zum zweiten Mal in meinem journalistischen Wirken begebe ich mich unter dem klaren Sternenhimmel der klirrenden Polarnacht auf Spurensuche. Vor 22 Jahren nahm ich am Polarkreis die Fährte nach einem berühmten älteren Herrn mit weissem Bart und roter Robe auf.
In enger Konkurrenz mit den anderen nordischen Staaten hatte das seinerzeit noch junge EU-Mitglied Finnland im fernen Brüssel den Zuschlag für das offizielle «Santa Claus Village» der Europäischen Union erhalten. Rovaniemi, Hauptstadt der nordfinnischen Landschaft Lappland, machte schliesslich das Rennen.
Hoher Norden, tiefe Zufriedenheit
Auch jetzt machen sich die Nordländerinnen und Nordländer wieder einen Titel streitig: diesmal jenen des glücklichsten Volkes. Aber nicht nur in der Europäischen Union, sondern gleich weltweit.
Die UNO publiziert seit 2021 einmal pro Jahr einen Weltglücksbericht . Dies, nachdem sich die Generalversammlung der Weltorganisation im Jahre zuvor auf einen erweiterten, «ganzheitlicheren» Entwicklungsbegriff geeinigt hatte. Die Idee: Er soll neben objektiv-ökonomischen Werten des Wohlhabens auch subjektiv-menschliche Indikatoren des Wohlergehens berücksichtigen.
Immer wieder Finnland
Nachdem sich in den ersten fünf Berichtsjahren Dänemark, Norwegen und die Schweiz (2015) in der attraktiven Poleposition abwechselten, trägt seit 2018 Finnland das Leadertrikot.
Finnland? Die Heimat des Regisseurs Aki Kaurismäki, der uns in seinen Filmen wie kein zweiter die skurril-bizarren Züge eines als zurückhaltend, melancholisch und unaufgeregt geltenden Volkes aufgezeigt hat?
Wie bitte kommen diese Menschen, von denen manche die coronabedingten Abstandsregeln von zwei Metern als einen Übergriff auf die persönliche Integrität begreifen, zu ihrem grossen Glück?
Die Glücksgrenze mitten in der Natur
Grund genug also, sich nach der vergleichsweise einfachen «Samichlaus»-Mission zur Jahrtausendwende erneut auf den Weg zu machen – in die abgelegenen Wälder Nordostfinnlands.
Dabei markieren die beiden farbigen Holzpfosten ausserhalb von Kuusamo, rund 800 Kilometer nördöstlich von Helsinki, nicht nur die Grenze zwischen Finnland und Russland. Sondern eben auch die Demarkationslinie zwischen dem glücklichsten und einem der unglücklicheren Länder der Welt.
Hier, entlang eines fast 400 Kilometer langen Abschnittes der insgesamt über 1300 Kilometer langen russisch-finnischen Grenze, verrichtet Jyrki Säkkinen seit fünf Jahren den Job als oberster finnischer Grenzschützer im Distrikt Kuusamo.
«Das macht mich glücklich», sagt der Mittvierziger, «denn ich bin das ganze Jahr über mitten in der Natur.» Besonders freue er sich auf das Frühjahr, «wenn sich die Sonne kaum mehr vom Horizont verabschiedet und ich mit meiner Familie auf Skitouren gehen kann».
Ich jauchze nicht immer vor Freude, aber mein Leben ist sehr befriedigend.
Geselligkeit und Vertrauen
Es sind solche subjektiv empfundene Wahrnehmungen des eigenen Wohlbefindens, die im Weltglückbericht neben traditionellen Statistiken zur Wirtschaftsleistung, Gesundheit und Bildung eine wichtige Rolle spielen.
In Finnland und anderen «glücklichen» Ländern kommen laut UNO einige zentrale Stärken zusammen: eine starke Volkswirtschaft, die hohe Lebenserwartung und ein starker sozialer Zusammenhalt.
Letzterer äussert sich dabei weniger in einer besonders starken Geselligkeit der gut 5.5 Millionen Finninnen und Finnen, aber in ihrem starken Vertrauen in gemeinsame Institutionen.
Steuerzahlen als Glückserlebnis
«Ich bin eine glückliche Steuerzahlerin», sagt Tanja Huutonen im «Isokenkäisten Klubi», die soeben aus einem Eisloch des Heikinjärvi-Sees gestiegen ist.
Der Grund? «Vor zehn Jahren erkrankte mein Sohn an Diabetes. Die damit verbundene Pflege und alle Hilfsmittel waren kostenlos», sagt die langjährige Moderatorin eines privaten finnischen Fernsehsenders, nachdem sie wieder Platz in der Rauchsauna des Klubs genommen hat. Heute koordiniert Huutonen die Öffentlichkeitsarbeit der finnischen Botschaft in Berlin.
«Ich jauchze nicht immer vor Freude, aber mein Leben ist sehr befriedigend. Und ich mag es zum Beispiel ausserordentlich nach der Sauna in ein Eisloch zu springen. Dann sind alle Sorgen vergessen.»
Mein Leben ist total normal und alltäglich.
Finnlands schwerer Rucksack
Die Finninnen und Finnen als grundsätzlich sorgloses Volk zu verstehen, wäre jedoch verfehlt. Dafür trägt «Suomi», wie Finnland in der Landessprache heisst, viel zu viel schweres Gepäck im eigenen Rucksack mit.
Angefangen von der jahrhundertelangen Besatzung durch fremde Mächte wie Schweden und Russland, löste die finnische Unabhängigkeitserklärung im Jahre 1917 im Nachzug zur kommunistischen Oktoberrevolution im östlichen Nachbarland einen blutigen Bürgerkrieg in Finnland aus.
Es folgten Kriege und Verwüstungen in Konflikten mit der Sowjetunion und Nazi-Deutschland.
Zwischen Extremen und Durchschnitt
«Unsere Geschichte lehrt uns, nichts einfach selbstverständlich zu nehmen», betont Anna-Riitta Sulander, die ich im Ortszentrum von Ruka vor einer Eisskulptur treffe.
Hier ist in den letzten Jahrzehnten eines der wichtigsten alpinen Wintersportzentren des Landes entstanden. Und das, obwohl sich der Rukatunturi-Berg nur gerade einmal knapp 500 Meter über das weite bewaldete nordfinnische Flachland erhebt.
Auch hier zeigt sich: Finnland besticht nicht durch photogene Extreme, sondern überzeugt mit solider Durchschnittsqualität. «Mein Leben ist total normal und alltäglich», unterstreicht Anna-Riita Sulander, die mit ihrer Familie seit einigen Jahren in Ruka lebt. «Mich macht glücklich, was mir das Leben schenkt, und was ich daraus machen kann.»
Ostausflug eines Rentiers
Die Spurensuche in der nordostfinnischen Polarnacht macht vor allem eines deutlich: Dieses Land ist ausgehend von den Erfahrungen der ersten 100 Jahre seiner Geschichte als unabhängiger Staat nicht nur für den Moment, sondern auch für die Zukunft gut gerüstet.
«Tradition und Modernität gehen bei mir Hand in Hand», sagt Juha Kujala, der in fünfter Generation die Rentierherde von Poritola pflegt und verwaltet: «Geht es meinen Rentieren gut, geht es uns allen gut», betont Kujala, der auf seiner Farm nördlich von Kuusamo regelmässig Besucherinnen und Besucher empfängt.
Seine Rentiere bewegen sich über Hunderte von Quadratkilometern und sind mit GPS-Sendern ausgerüstet: «Letzte Woche setzte sich eines über die Grenze nach Russland ab.»
Für solche Fälle gibt es ein spezielles Protokoll: «Ich rufe beim russischen Grenzposten an», sagt Kujala, «erhalte ein Spezialvisum und kann mithilfe eines Motorschlittens mein Rentier zurückholen.»
5G und andere Trümpfe
Pragmatismus und Dialogfähigkeit sind typisch finnische Fähigkeiten, die es dem krisenerprobten Land heute ermöglichen, bei vielen Entwicklungen die Nase ganz vorne zu haben.
Dazu gehören die Digitalisierung (sogar in den Wäldern rund um Kuusamo ist 5G bereits flächendeckend im Einsatz), die Bildung (Finnlands Schulen gehören zu den besten der Welt) und die Gleichberechtigung von Mann und Frau.
Ein Land der starken Frauen
Die Gleichberechtigung gehört zur DNA des Landes, in dem das allgemeine Stimm- und Wahlrecht als erstes in Europa überhaupt eingeführt wurde: im Jahre 1906, als Finnland noch ein Grossherzogtum des russischen Zarenreiches war.
«Es macht mich glücklich, dass ich meiner Tochter zeigen kann, dass unser Land heute von jungen Frauen geführt wird», sagt Marjaana Ajanto, die ich auf dem Heimweg in der finnischen Hauptstadt Helsinki treffe – laut UNO notabene die «glücklichste Stadt der Welt» . In Finnland seien viele Sachen gut, hält die Dozentin fest. «Aber auch unser Leben ist voller Mühsal.»
Schutz und Schönheit
Das gilt auch für Grenzschützer Jyrki Säkkinen, hoch oben in den tiefen Wäldern Nordostfinnlands: «Ich bin der Sohn einer Flüchtlingsfamilie», erzählte er. Seine Eltern wuchsen in jenem Teil Finnlands auf, der nach dem verlorenen Krieg gegen die Sowjetunion an Russland abgetreten wurde.
Sie flüchteten in das Gebiet von Kuusamo, wo ihr Sohn heute für den Schutz der «neuen» Grenze zuständig ist – und diese Aufgabe mit grossem Engagement wahrnimmt. Wie sagte er noch, im Dunkel der Polarnacht? «Das macht mich glücklich.» Ich glaube ihm aufs Wort.