Haben Sie zu Weihnachten ein Buch geschenkt bekommen, einen Roman? Dann lesen Sie den ersten Satz im ersten Kapitel auf der ersten Seite besonders aufmerksam. Steht hier etwas über das Wetter? Wenn ja, dann darf ich Ihnen gratulieren. Aus Sicht des Meteorologen verdient Ihr Buch das Prädikat «wertvoll».
Kostproben gefällig?
Sturm für ungestüme Helden
Ein kalter Pampero strich über die meerbusenartige Mündung des La Plata herüber und bewarf die Strassen von Montevideo mit einem Gemisch von Sand, Staub und grossen Regentropfen.
Ein umwerfender Einstieg. Die Kälte, der Wind, der einsetzende Regen lassen uns förmlich erschauern. Unheilvolles scheint sich anzubahnen. Die Stimmung ist von Beginn weg angespannt, und das bedrohliche Wetter lässt viel Böses erahnen. Wird der Held überleben?
Allein mit Wetter hat Karl May unser Interesse geweckt – gespannt lesen wir weiter. Der Autor hat es verdient.
Fromme Mönche in jungfräulichem Schnee
Es war ein klarer spätherbstlicher Morgen gegen Ende November. In der Nacht hatte es ein wenig geschneit, und so bedeckte ein frischer weisser Schleier, kaum mehr als zwei Finger hoch, den Boden
Der mittelalterliche Detektivroman spielt in Italien. Offenbar ist ein Kaltluft-Höhentrog von Norden her über die Alpen nach Süden geschwappt. Folgende Fragen drängen sich auf:
- Hat sich ein Genua-Tief gebildet?
- Wird es eine Vb-Zugbahn einschlagen?
- Sind Überschwemmungen zu befürchten?
Der Erzähler lässt uns im Ungewissen. Aber: Der winterkalte Start in die Geschichte könnte auf ein heisses Ende hindeuten, vielleicht gar mit Sturm und Glut und Feuersbrunst…?
Wetter der sybillinischen Art
Gewiefte Autoren lassen Raum frei für Interpretationen. Auch bei den Wetterszenen. So beginnt Thomas Mann seinen «Buddenbrooks» mit folgender Frage:
Was ist das? – Was – ist das…?
Vordergründig rezitiert die junge Antonie Buddenbrooks den kleinen Katechismus von Martin Luther. Hintergründig aber redet sie von Wetter.
Woher wir das wissen?
Nun, etwas weiter unten beschreibt Mann akkurat die meteorologische Lage:
- Es war frühzeitig kalt geworden
- schon jetzt, um die Mitte des Oktober, pfiff der Wind
- ein feiner, kalter Regen ging hernieder
- die doppelten Fenster hatte man schon eingesetzt
Will heissen: Der Winter hält Einzug.
Die kleine Antonie hat beim Zitieren von Luther wohl zum Fenster rausgeschaut - und vermutlich eine erste schwindsüchtige Schneeflocke entdeckt: «Was – ist das…?»
Unsere Antwort: Der Vorbote vom Niedergang der Familie Buddenbrooks!
Wenn Wetter fehlt
Ohne Wetter bleibt ein Schriftsteller dramaturgisch auf der Strecke. Er produziert nur Schundliteratur. So beginnt dieser Roman von Mark Twain NICHT mit Wetter. Auch im dritten oder vierten Satz fehlen jegliche Hinweise auf Wind, Niederschlag oder Temperaturen. Überhaupt müssen wir uns über viele Seiten hinweg durch überflüssiges Blabla kämpfen, bis endlich – endlich! – Wetter kommt. Aber wie kommt es?
Plötzlich wandte er sich an mich und sagte in einem Ton, als rede er vom Wetter oder sonst irgend etwas Alltäglichem:…
Spätestens hier wird dem meteorologisch interessierten Leser klar: Mark Twain wird als Autor völlig überschätzt.
Wetter vom Feinsten
Zum Schluss ein Glanzstück aus der Weltliteratur, das Paradebeispiel aus dem Olymp der Schriftstellerkunst:
Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Rußland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen. Die Isothermen und Isotheren taten ihre Schuldigkeit. Die Lufttemperatur stand in einem ordnungsgemäßen Verhältnis zur mittleren Jahrestemperatur, zur Temperatur des kältesten wie des wärmsten Monats und zur aperiodischen monatlichen Temperaturschwankung. Der Auf- und Untergang der Sonne, des Mondes, der Lichtwechsel des Mondes, der Venus, des Saturnringes und viele andere bedeutsame Erscheinungen entsprachen ihrer Voraussage in den astronomischen Jahrbüchern. Der Wasserdampf in der Luft hatte seine höchste Spannkraft, und die Feuchtigkeit der Luft war gering. Mit einem Wort, das das Tatsächliche recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist: Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913.
Dieser Einstieg in den Roman ist nahezu göttlich. Allein schon der Fachbegriff «Isothermen» (Linien derselben mittleren Sommerwärme) zeugt von der Genialität und Kompetenz des Autors.
Robert Musil beweist mit diesem Werk: Wetter IST Literatur!
Auf weiteren spannenden Lesegenuss
In diesem Sinne wünschen wir Ihnen frohe Weihnachten und ein tolles 2017 mit hoffentlich viel schönem und spannendem Wetter. Auch in Ihren Büchern.
Herzlich
Thomas Bucheli und das Team von SRF Meteo