«Die Aare ist kein natürlicher Fluss mehr, sondern eine Abfolge grosse Badewannen. Das Wasser fliesst nicht mehr, es steht.» Bruno Schelbert muss es wissen. Seit vielen Jahren arbeitet der Wasserbau- und Kulturingenieur für den Kanton Aargau. Er kennt die Flüsse des Aargaus wie seine Westentasche.
Und jeden Tag sieht er, was frühere Generationen angerichtet haben. Im Kampf gegen das Hochwasser wurden Gewässer «korrigiert», also verbaut und in Dämme gezwängt. Und dem Hunger nach Elektrizität wurde der freie Fluss des Wassers geopfert. Staudamm um Staudamm entstand. Aare und Limmat bieten viel Anschauungsunterricht.
Diesen Massnahmen zerstörten die Auen-Landschaften des Aargaus. Nicht bewusst, sondern schleichend, Stück für Stück. Die Strecken, wo der Fluss dynamisch war, sich verändern und über die Ufer treten konnte, wurden immer weniger. Den Rest gab den verbleibenden Auenlandschaften der Zweite Weltkrieg. Die «Anbauschlacht» wurde propagiert. Jeder Quadratmeter Sumpfland wurde trocken gelegt.
Der Preis für Sicherheit vor Hochwasser, mehr Elektrizität und mehr Nahrungsmittel: Eintönige Uferlandschaften und aussterbende Tier- und Pflanzenarten.
Das Umdenken beginnt
In den 70er- und 80er-Jahren fand ein Umdenken statt. Im Aargau merkte man, was mit den Auenlandschaften verloren gegangen war. Immer dabei bei diesen Diskussionen: Gerhard Ammann aus Auenstein, Kantilehrer für Geografie und Präsident des Aargauischen Bundes für Naturschutz, der Vorläuferorganisation von Pro Natura Aargau.
«Eine Aue ist eine typische Landschaft für die Aargauer Flusstäler», sagt der heute 80-Jährige. «Ich fand: Aare, Aar-Gau, Aare-Tal, Auenthal – das gehört zusammen.» Selber kann er sich noch gut an «originale» Auenlandschaften erinnern. Als Kind erkundete er mit den Eltern die Strecke entlang der Aare von Biberstein nach Auenstein. Der Fluss war noch nicht für das Kraftwerk gestaut, die Gegend war sumpfig.
Zu wenig verlangt
Zusammen mit Vogelschützern, Fischern und Förstern und lancierte Gerhard Ammann die Volksinitiative für einen Auen-Schutzpark im Aargau. «Die Idee, ein Prozent der Kantonsfläche in Auenlandschaften zu verwandeln, schien mir eigentlich überrissen zu sein», erinnert sich Ammann.
Würde er die Initiative heute noch einmal lancieren, würde er aber zwei Prozent verlangen. Erst nach dem Zustandekommen der Initiative wurde nämlich ein Inventar der Auenflächen erstellt. Und dort zeigte sich, dass noch mehr Flächen vorhanden waren als gedacht.
Nachdem das Volk den Auen-Schutzpark in die Verfassung geschrieben hatte, musste die Regierung den Auftrag umsetzen. In den letzten 20 Jahren flossen 50 Millionen Franken in den Park. Er besteht nicht aus einer geschlossenen Fläche, sondern aus 22 Abschnitten entlang der grossen und kleinen Flüsse.
Menschen verrichten das Werk der Natur
Weil der Fluss sein Bett selber nicht mehr verlassen kann, musste der Mensch mit grossen Baumaschinen eingreifen. Er legte grosse Flächen tiefer, damit sie wieder nass werden, und er gab den Flüssen an vielen Orten neue Seitenarme. Bagger braucht es auch, um den Boden aufzureissen, damit sich Pionierpflanzen ansiedeln können.
Seit 13 Jahren ist Bruno Schelbert Programmleiter des Auen-Schutzparks im Aargau. Er ist in dieser Funktion zuständig für die Umsetzung der Volksinitiative.
«Dass man in einem dicht besiedelten Kanton wie dem Aargau so viele Flächen, nämlich gegen 16 Quadratkilometer, der Natur zurückgeben konnte, darauf kann man stolz sein.»
Fläche der Natur zurückgeben, das ist aber nicht gleichbedeutend wie in den Originalzustand zurückzuversetzen. «Das geht gar nicht. Und das wollen wir auch gar nicht», betont Bruno Schelbert. Die Dämme bleiben, die Staustufen für die Elektrizitätswerke bleiben. Und für den Auen-Schutzpark werden auch keine Brücken oder Strassen abgerissen.
Der Park ist deshalb nur eine Annäherung an den früheren Zustand. Aber eine erfolgreiche Annäherung. Wissenschaftlich ist erwiesen, dass der Pflanzen- und Tierreichtum in den Auenlandschaften des Aargaus in den letzten 20 Jahren enorm zugenommen hat.
Und wer selber im Park unterwegs ist, kann diesen wissenschaftlichen Befund ohne Weiteres erhärten. Das vielstimmige Morgen- und Abendkonzert in den Auenlandschaften, mit dem Ruf des Kuckucks und dem Gequake unzähliger Frösche, ist ein eindrückliches Erlebnis.