In Theater oder Konzert ist sich das Publikum normalerweise einen Standardablauf gewöhnt: Saal betreten, Sitzplatz suchen, Vorhang auf, Show beginnt, Vorhang zu, Applaus, nach Hause gehen – im Musiktheater im Hotel Verenahof läuft alles ganz anders.
Musik in der Hotelruine
Zunächst erlebt der Zuschauer hier eine Mischung aus Musik und Theater. Musische Elemente und szenische Darstellungen wechseln sich ab, ergänzen sich und fliessen ineinander: Sprache und Melodie, Schauspieler und Musiker in Kombination.
Das Stück beginnt für die Zuschauer bereits auf dem Vorplatz des alten Bäderhotels, das schon längst geschlossen ist und seine besten Tage gut erkennbar weit hinter sich hat. Die einst stolze weisse Fassade ist vergammelt und bröckelt ab, vielerorts schaut marodes Mauerwerk hervor. Die Läden der grossen Fenster sind vergilbt, viele hängen schräg in den Angeln.
Doch dann herrscht plötzlich wieder Leben in der Hotelruine Verenahof. Während das Publikum noch vor dem Gebäude steht, öffnen sich Fensterläden und es erscheinen Musikerinnen und Musiker von Argovia Philharmonic, geben den Wartenden ein Ständchen. Laute Bläserklänge und leise Querflöte wechseln sich ab, feine Geigen und kräftige Bässe sind zu hören.
Gezielte Überforderung des Publikums
Danach bittet eine fiktive Hoteldirektorin das Publikum ins Innere des altehrwürdigen Boutiqe-Hotels. Hier beginnt die Herausforderung für die Zuschauer – eher Teilnehmer – so richtig. Aus vielen Richtungen dringt Musik in die Ohren. Aus den Gängen, aus kleinen Zimmern, versteckten Nischen, aus dem oberen und dem unteren Stockwerk, die Musik scheint überall zu sein.
Da eine Geige, dort ein Cello, irgendwoher kommt ein Trommeln. Und spätestens wenn eine Sopranistin singend im Gang an einem vorbeiläuft, merkt der Zuschauer, dass er mitten drin im Geschehen ist. «Das kann eine gewisse Überforderung sein», meint dazu Regisseur Walter Küng. Zusammen mit Christian Weidmann, dem Intendanten von Argovia Philharmonic, hat er das Stück entwickelt und umgesetzt.
Skeptische Musiker sind heute begeistert
«Der Zuschauer soll sich hier seine eigene Geschichte zusammenstellen», erläutert Küng das Konzept des Stückes. Es laufe vieles parallel, dabei könne man selber entscheiden, wo man wie lange verweile. Eine Herausforderung, aber eine lohnende, merkt der Regisseur an.
Die Herausforderung betreffe auch die Musiker, ergänzt Orchesterleiter Christian Weidmann. «Im normalen Konzert ist alles standardisiert und es gibt klare Hierarchien. Hier ist alles offen und unhierarchisch.» Jeder Musiker müsse sich als Teil des Stücks verstehen, müsse selber mehr Verantwortung übernehmen, könne sich nicht in einem Kollektiv verstecken.
«Einige Musiker waren skeptisch, als sie von der Idee hörten. Nun aber sind alle, die dabei sind, dankbar für die Erfahrung», sagt Weidmann stolz. Und auch klanglich überzeuge das Stück, die Akustik im alten Gebäude sei zum Teil sogar sensationell, schwärmt der Orchesterleiter.
Ganzes Orchester bietet Zeit für Entspannung
Nach dem individuellen Rundgang durchs Hotel ruft die Hoteldirektorin das Publikum im prunkvollen grossen Speisesaal des Hotels zusammen. Hier versammeln sich die Einzelmusiker von Argovia Philharmonic erstmals zu einem kleinen Orchster auf einer improvisierten Bühne.
Während die Zuschauer am grossen Tisch in der Mitte des Saales sitzen, dem Orchster und den Arien der Sopranistin lauschen, können sie sich von der Überforderung des vorangehenden Rundgangs erholen und die zahlreichen Details des grossen Saales bewundern: Feine Stukkaturen an der hohen Decke und grosse Fenster mit Ausblick auf die Rebberge.
Es sei neben der Musik und dem Theater eine grosse Erfahrung an diesem Stück, findet Regisseur Walter Küng, dass sich das Publikum noch einmal in diesen alten Gebäuden umsehen könne. «Das hat nicht nur mit Badenern zu tun, die das kennen. Das fasziniert alle, die sich auf Nicht-Alltägliches einlassen.» Man könne nie mehr sonst in diese Räume, es sei eine Art Abschied und auch ein Neubeginn, philosophiert Küng.
Ein Konzert im leeren Bassin
Der Abschied gilt hier nicht nur dem Hotel Verenahof. Nach dem Konzert im Speisesaal führt die Hoteldirektorin – mit Vornamen übrigens auch Verena – noch hinüber ins Thermalbad. Nach dem Gang durch die unterirdischen Badekämmerlein des Hotels gelangt man zum grossen Bassin des alten Bades.
Hier versammelt sich erneut das ganze Orchester zum Abschlussbouquet des Stückes. Intendant Christian Weidmann freut sich: «Das ganze Haus ist eine Bühne, es ist einzigartig und macht uns allen wahnsinnig Spass.»
Es fällt kein Vorhang. Die Zuschauer werden von der Hoteldirektorin nach draussen geleitet und verlassen die historische Bäderwelt so plötzlich, wie sie gut 90 Minuten zuvor darin eingetaucht waren.