Das Bundesgericht hat am Montag ein Grundsatzurteil veröffentlicht. Zu beurteilen hatte das Gericht zwar einen Fall aus dem Kanton Aargau. Die Forderung der Richter gilt aber für alle Kantone.
Demnach sind die Kantone verpflichtet, genügend Plätze für stationäre therapeutische Massnahmen von Strafgefangenen zur Verfügung zu stellen. Sonst könnten sie gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstossen, warnen die Bundesrichter.
Der Aargauer Fall
Im Aargau hatte das Verwaltungsgericht am 12. Mai 2015 den Entscheid von Vorinstanzen zu einer nachträglichen stationären therapeutischen Massnahmen gestützt.
Umstritten war der Zeitpunkt des Beginns der auf eineinhalb Jahre begrenzten Massnahme, die das Bezirksgericht Zofingen am 14. November 2013 verhängt hatte. Die Therapie in der Psychiatrischen Klinik Königsfelden konnte der Betroffene erst sechs Monate später beginnen, am 12. Mai 2014.
Sicherheitshaft statt Therapie
Die Wartezeit verbrachte der Mann in der Justizvollzugsanstalt Lenzburg in Sicherheitshaft. Dabei erhielt er keine Therapie. Seine Haftstrafe von dreieinhalb Jahren, zu der er 2011 worden war, hatte er zu diesem Zeitpunkt längst verbüsst.
Das aargauische Verwaltungsgericht hatte in seinem Urteil gegen die Beschwerde des Mannes den Standpunkt des Amtes für Justizvollzug des Kantons gestützt, die Massnahme habe erst mit dem Eintritt in die Psychiatrie am 12. Mai 2014 zu laufen begonnen.
Aus Sicht des Bundesgericht begann die Massnahme allerdings bereits mit der rechtskräftigen gerichtlichen Anordnung derselben am 14. November 2013, weil der Betroffene schon in Haft sass und damit seine Massnahme angetreten hatte. Die Richter in Lausanne verwiesen den Fall an die Vorinstanz zur Neubeurteilung zurück.
Unverhältnismässig langes Warten
In ihrem Urteil hielten sie fest, dass einem Betroffenen «ein allfälliger Mangel an geeigneten Einrichtungen zur Durchführung von stationären Massnahmen gemäss Art. 59 StGB oder Organisationsprobleme nicht zum Nachteil gereichen» dürfe.
Auch die lange Dauer der Sicherheitshaft rügt das Bundesgericht: Ein halbes Jahr Warten auf eine therapeutische Massnahme in Sicherheitshaft verstosse gegen das Gebot der Verhältnismässigkeit. Der Staat verletze damit die Grund- und somit die Menschenrechte der Betroffenen.
Staat in der Pflicht
Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof habe mehrfach festgehalten, «dass der Freiheitsentzug einer behandlungsbedürftigen Person grundsätzlich nur rechtmässig ist, wenn er in einem Krankenhaus, einer Klinik oder in einer anderen geeigneten hierfür geeigneten Institution erfolgt», schreibt das Gericht und folgert: «Der Staat ist verpflichtet, in hinreichendem Umfang Plätze in geeigneten Einrichtungen bereitzustellen, damit die Betroffenen untergebracht werden können.»
Umgekehrt die Betroffenen einfach länger ins Gefängnis zu stecken, ist für das Bundesgericht keine Option. Die Aargauer Behörden hatten im Falle des Betroffenen den Antrag auf die Massnahme und den Antrag auf Sicherheitshaft erst kurz bevor dieser hätte aus dem Gefängnis entlassen werden sollen gestellt.
Massnahme wird zu Verwahrung
Während das aargauische Verwaltungsgericht das Vorgehen der Behörden stützte, erteilte das Bundesgericht diesen eine Rüge: «Letztlich führt die nicht nur vorübergehende Unterbringung in einer Straf- oder Haftanstalt ohne Behandlung mit zunehmender Wartezeit dazu, dass der Zweck der Massnahme - die Resozialisierung des Betroffenen durch eine geeignete Behandlung - sowie der Anspruch des Massnahmeunterworfenen auf eine adäquate Behandlung unterlaufen und die (...) vorgesehene Vollstreckungsreihenfolge - Massnahme vor Strafe - umgedreht wird», heisst es im Urteil aus Lausanne.
Ein Freiheitsentzug sei in einem solchen Fall nur gerechtfertigt, wenn auch jemand therapiert werde. Finde keine Therapie statt, käme «der wahre Zweck der Massnahme allein der Sicherung der betroffenen Person gleich. Ein solchermassen begründeter Freiheitsentzug wäre jedoch nur unter den strengeren Voraussetzungen gültig, die für die Verwahrung gelten».