Zum Inhalt springen

Migration Frontex in Pushbacks in Ägäis involviert

Der Afghane Aziz Berati fährt mit seiner Familie und 45 weiteren Flüchtlingen auf einem Schlauchboot von der Türkei über die Ägäis nach Griechenland. Im Morgengrauen des 28. Mai 2021 erreichen sie das Ufer von Lesbos und gehen an Land. Sie teilen sich in zwei Gruppen auf und wollen laut eigenen Angaben Asyl beantragen. Doch das kann nur eine Gruppe.

Wir haben alle Hoffnung verloren.
Autor: Aziz Berati Afghane auf der Flucht

Für Aziz Berati und 31 weitere Flüchtlinge kommt es ganz anders. Nur Stunden später treiben sie wieder auf der Ägäis. Anstatt ihre Asylanträge zu prüfen, habe die griechische Küstenwache sie zurück in türkische Gewässer gefahren, erzählen die Flüchtlinge, und dort in einer aufblasbaren Rettungsinsel ausgesetzt. «Wir haben alle Hoffnung verloren», erinnert sich Aziz Berati. «Ich habe versucht, die Kinder zu beruhigen und auch einige der Frauen, die weinten und schrien.» Schliesslich holte die türkische Küstenwache die Flüchtlinge aus dem Wasser.

Küstenwache weist Vorwürfe zurück

Die griechische Küstenwache bezeichnet die Vorwürfe auf Anfrage als tendenziös. Sie habe sich nie so verhalten. Es gebe in ihren Akten keinen Hinweis, dass ein solcher Vorfall je stattgefunden habe.

Griechenland hat hier einen Pushback durchgeführt, ohne den Personen vorher die Möglichkeit zu geben, ein Asylverfahren zu durchlaufen.
Autor: Nula Frei Expertin für Migrationsrecht

Für Nula Frei, Expertin für Migrationsrecht an der Uni Fribourg, ein klarer Fall: «Griechenland hat hier einen Pushback durchgeführt, ohne den Personen vorher die Möglichkeit zu geben, ein Asylverfahren zu durchlaufen.» Das sei völkerrechtlich nicht zulässig, sagt die im Migrationsbereich engagierte Rechtsexpertin. Zwar habe Griechenland das Recht, seine Grenzen vor illegaler Migration zu schützen. Aber ob eine Einreise illegal gewesen sei, könne man erst feststellen, nachdem man den Schutzbedarf einer Person geprüft habe.

Auswertung der Frontex-Datenbank zeigt: Kein Einzelfall

Auch die europäische Grenzschutzagentur Frontex kennt den Fall: Die Ereignisse sind in ihrer internen Datenbank vermerkt – inklusive dem Hinweis, dass Frontex involviert war. Die Frontex-Daten zu den Einsätzen in der Ägäis liegen der Rundschau, Lighthouse Reports, Republik, Spiegel und Le Monde vor. Die Redaktionen konnten die Daten auswerten und mit Datenbanken der türkischen Küstenwache sowie von NGOs vergleichen. Eine Kategorie sticht besonders hervor: «Prevention of Departure». Also eigentlich: Verhinderung der Ausreise. In der Ägäis hiesse das: Ein Boot bleibt in türkischen Gewässern. Dreht etwa ab, bevor es griechische Gewässer erreicht. Die Menschen reisen gar nie aus der Türkei aus. Aber in der Datenbank gibt es auch «Prevention of Departure»-Fälle, bei denen Flüchtlinge nachweislich in Griechenland waren – teils sogar auf einer Insel gelandet sind, so wie Aziz Berati. Mindestens 22 Fälle solcher Pushbacks finden sich für den untersuchten Zeitraum von März 2020 bis September 2021 in der Kategorie - betroffen sind 957 Menschen. Sie wurden in die Türkei zurückgedrängt und auf Rettungsinseln ausgesetzt. Das zeigt der Abgleich der Datenbank mit Daten der Türkischen Küstenwache und von NGOs. Frontex-interne Quellen bestätigen, dass unter «Prevention of Departure» tatsächlich auch Pushbacks erfasst werden.

Frontex ist meist auf dieselbe Art involviert: Sie entdeckt die Boote und meldet sie der griechischen Küstenwache. Frontex sei rechtlich mitverantwortlich für die Menschenrechtsverletzungen in der Ägäis, denn sie nehme ihre Monitoringfunktion nicht wahr, sagt die Expertin für Migrationsrecht. «Frontex hat auch darauf zu achten, dass die Grund-und Menschenrechte an der Grenze eingehalten werden.»

Stärkung der Grundrechtsbeauftragten

Werner Salzmann (SVP) ist Präsident der Sicherheitspolitischen Kommission des Ständerats. Er nehme die Pushback-Vorwürfe ernst. Aber dass die Schweiz deswegen den Frontex-Ausbau nicht mittrage, sei die falsche Antwort. «Das Hauptproblem ist, dass Frontex unterdotiert ist und ihren Aufgaben nicht gerecht werden kann.» Der Ausbau stärke auch die Grundrechtsbeauftragten in Frontex. «Die werden zuständig sein für die Ausbildung der staatlichen Grenzschutzbehörden und von Frontex. Dadurch erhoffe ich mir eine Verbesserung.»

Frontex nimmt zu den Vorwürfen nicht direkt Stellung, hält aber allgemein fest: «Frontex gewährleistet und fördert die Achtung der Grundrechte bei all ihren Grenzschutzaktivitäten.» Frontex sei verpflichtet, höchste Standards aufrechtzuerhalten. Zudem seien Frontex-Beamte an einen Verhaltenskodex gebunden.

Abstimmung über Finanzierung der Frontex

Box aufklappen Box zuklappen

Am 15. Mai stimmt die Schweizer Stimmbevölkerung über die Beteiligung am Ausbau der Grenzschutzagentur Frontex ab. Frontex unterstützt die Schengen-Staaten beim Schutz ihrer Aussengrenzen. Die Schweiz beteiligt sich seit 2011 an der Organisation, nun soll sie sich an deren Ausbau beteiligen – das wollen Bundesrat und Parlament. Heute setzt die Schweiz rund sechs Vollzeitstellen ein, bis 2027 sollen es maximal 40 sein. Der finanzielle Beitrag soll im selben Zeitraum von heute 24 auf schätzungsweise 61 Millionen steigen.

Gegen diese Vorlage wurde das Referendum ergriffen, weil aus Sicht der Gegnerinnen und Gegner die Schweiz durch die finanzielle Unterstützung von Frontex Menschenrechtsverletzungen mitverantwortet. Bei einem Nein riskiert die Schweiz ihren Ausschluss aus Schengen/Dublin.

Bashar Deeb, Emmanuel Freudenthal, Gabriele Gatti und Francesca Pierigh haben an der Recherche mitgearbeitet.

SRF Rundschau, 27.04.2022, 20:05 Uhr

Meistgelesene Artikel