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Abwärtsspirale Corona-Krise Vom Lockdown direkt in die Armut

Angestellte mit niedrigen Löhnen leiden besonders stark unter der Corona-Krise. Caritas Luzern kritisiert die Politik.

Die Corona-Krise und ihre Auswirkungen: Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer kamen glimpflich davon und verlegten ihr Büro einfach ins Homeoffice, andere wurden auf Kurzarbeit gesetzt.

Wieder andere verloren ihren Job aber gleich ganz. Und trotz ausgebauten Sozialsystem und Hilfsgelder vom Bund: Manche davon beförderte der Lockdown direkt in die Armutsfalle.

Wie zum Beispiel Selma Aslam.

In Wirklichkeit heisst die Mittvierzigerin aus dem Raum Luzern anders, sie möchte aber anonym bleiben. Sie ist in der Schweiz geboren als Tochter von Gastarbeitern, macht in den Neunzigerjahren eine Lehre im Detailhandel, heiratet, wird Mutter einer Tochter, die sie schliesslich alleine aufzieht.

Bis zum Lockdown läufts ganz gut

Mitte März läuft eigentlich alles rund für sie. Selma Aslam ist Betriebsleiterin in einem Restaurant; lediglich in einem 50 Prozent-Pensum zwar, sie hat aber die mündliche Zusage, an ihren freien Tagen im Service aushelfen zu können. Der Tag, um den schriftlichen Vertrag aufzusetzen, ist festgelegt – doch genau dann ordnet der Bundesrat den Lockdown an, und alles wird anders.

Selma Aslam wird im Betrieb nicht mehr gebraucht.

RAV bewilligt ganze 1800 Franken im Monat

Sie geht aufs Arbeitsamt, aufs RAV. Dort erhält dort gerade einmal 1800 Franken im Monat zugesprochen – für den gesamten Lebensunterhalt, inklusive Miete und Krankenkasse. Grund: Bis vor Kurzem arbeitete die Mitvierzigerin selbständig und zahlte sich selber nur einen niedrigen Lohn aus.

Selma Aslam, die sonst immer positiv in die Zukunft schaut, ist erschüttert. «Ich sass im RAV in diesem Büro mit Tränen in den Augen und sagte: Was soll ich jetzt tun?», sagt sie. «Ich habe kein Eigentum, nichts zu verkaufen, ich habe nichts auf der Seite und stehe da ohne reiche Familie.»

Sie will der Tochter den Gang aufs Sozialamt ersparen

Selma Aslam ficht den Entscheid des RAV an, das Ergebnis ist noch ausstehend. Auch der Gang aufs Sozialamt hilft nicht weiter. Grund ist ihre 22-jährige Tochter: Sie studiert, wohnt aber noch bei der Mutter. Nach Ansicht der Behörden müsste sie Selma Aslam bei der Miete unterstützen – um das tun zu können, müsste jedoch die Tochter Sozialhilfe beantragen, und das will die Mutter vermeiden: Noch am Studieren und schon Sozialhilfe beziehen, das will Selma Aslam ihrer Tochter ersparen.

Das Gröbste abwenden kann ein einmaliger Betrag, den die ehemalige Restaurant-Betriebsleiterin von der Caritas erhält – eine Überbrückungshilfe für Menschen, die mit Beginn der Corona-Krise durch die Maschen fallen. «Damit konnte ich immerhin einmal die dringendsten Rechnungen bezahlen», sagt Selma Aslam.

Caritas Luzern: «Das ist kein Einzelfall»

Der Fall von Selma Aslam ist speziell – aber er ist kein Einzelfall. Doris Nienhaus, Leiterin Soziale Integration bei der Caritas Luzern, kennt mehrere Geschichten von Menschen, die die Corona-Krise in die Armut treibt.

«Gefährdet sind vor allem Menschen, die im Niedriglohn-Sektor arbeiten, also zum Beispiel in der Gastronomie», sagt sie. «Zu normalen Zeiten gelang es ihnen, gerade so knapp durchzukommen. Und jetzt reicht es nicht mehr.» Auch Leute, die ihren Job nicht verlören, sondern lediglich auf Kurzarbeit gesetzt würden, könne schnell die Luft ausgehen: «Die 20 Prozent Lohneinbusse machen es dann eben gerade aus, dass die Rechnung nicht mehr aufgeht.»

Die Politik hätte Möglichkeiten gehabt

Die Caritas Luzern leistet Unterstützungszahlungen – seit vergangenem März hat sie über 200'000 an Gesuchstellerinnen und Gesuchsteller ausbezahlt.

Sie ist aber enttäuscht, dass von der Politik nicht mehr kommt. «Wir hätten uns gewünscht, dass der Kanton Luzern Gelder spricht, um kurzfristig die Konsequenzen der Corona-Krise für Menschen abzufedern, die auch sonst schon am Limit sind», sagt Doris Nienhaus.

Eine Möglichkeit wäre etwa gewesen, die Prämienverbilligungen zu verdoppeln – damit wäre den Armutsbetroffenen direkt geholfen gewesen. Zudem hätte für Beschäftigte im Niedriglohnbereich eine hundertprozentige Lohnfortzahlung beschlossen werden können.

Kantonsparlament versenkte sämtliche Vorstösse

An der Kantonsratssession vom Montag hat das Luzerner Kantonsparlament Vorstösse in diese Richtung aber samt und sonders versenkt. Doris Nienhaus bedauert dies. Die Caritas werde die Politik aber weiterhin aufmerksam machen, wo der Schuh drücke und versuchen, Einfluss auf die Parteien zu nehmen. «Wir haben Tag für Tag Menschen in der Beratung, die Hilfe suchen, und wir werden weiterhin das Sprachrohr dieser Menschen sein.»

«Ich bin in einer Sackgasse»

Selma Aslam überlegt sich derweil, zumindest für eine Weile wieder in die Türkei zu ziehen und dort bei ihrer Mutter zu leben. «Ich bin auch jetzt noch zuversichtlich, dass ich wieder eine Arbeit finden werde», sagt sie. «Aber ich bin im Moment in einer Sackgasse und brauche etwas Abstand.»

Regionaljournal Zentralschweiz, 30. Juni 2020; 17:30 Uhr ; 

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