Jürgen Schäfer leitet das Zentrum für unbekannte und seltene Erkrankungen (ZusE) an der Uni-Klinik Marburg.
Um seine Studierenden für das Spezialgebiet «seltene Krankheiten» zu sensibilisieren, hielt er 2008 eine Vorlesungen unter dem Titel «Dr. House revisited – hätten wir den Patienten in Marburg auch geheilt?». Mit Dr. House spielt Jürgen Schäfer auf die Titelfigur der gleichnamigen TV-Serie an. Darin stellt ein exzentrischer Arzt mit detektivischem Scharfsinn schwierige Diagnosen.
Auch Jürgen Schäfer und sein Team arbeiten wie Kommissare in einem Krimi. Ihre Patientinnen und Patienten haben oft eine jahrelange Ärzte-Odyssee hinter sich, ohne dass ihnen jemand helfen konnte.
Um einen Fall zu lösen, braucht es akribische Recherche. «Die Patientengeschichte ist für uns das A und O» sagt Jürgen Schäfer. In langen Gesprächen erarbeiten sich die Spezialistinnen einen Überblick: War der Patient im Ausland, etwa in Afrika? Welchen Beruf hatte er und welchen Umwelteinflüssen war er ausgesetzt?
Jedes Detail zählt und könnte den Hinweis für die Diagnose liefern. Auch die Patientenakte kann die entscheidende Information enthalten. Weil viele der Hilfesuchenden schon seit Jahrzehnten in Behandlung sind, kann ihr Dossier mehrere tausend Seiten schwer werden.
Das Studium dieser Akten beansprucht deshalb viel Zeit. «Wir können pro Jahr höchstens um die tausend Patienten behandeln» sagt Jürgen Schäfer. Die Warteliste ist entsprechend lang, mehr als 6’000 Verzweifelte warten auf einen Termin.
Die denkende Maschine
Doch nun ist für den Sherlock Holems und sein Team in Marburg ein Assistent in Sicht: Watson, ein bahnbrechnedes Computersystem von IBM, soll den Ärzten helfen. Denn der Computer kann viel mehr, als herkömmliche Maschinen. Watson versteht Sprache, kann sich Wissen aneignen und kombinieren
Wie gut die Maschine das alles beherrscht, hat sie schon vor fünf Jahren in der TV-Quizshow «Jeopardy» bewiesen. Watson trat am Fernsehen gegen zwei Champions an . Die Teilnehmer mussten zahlreiche anspruchsvolle Aufgaben lösen, ähnlich einem Kreuzworträtsel. Der Quizmaster gab einen Hinweis auf einen gesuchten Begriff oder eine Person, etwa: «Diese Mystery-Autorin und ihr Archäologen-Gatte gruben in der Hoffnung, die versunkene syrische Stadt Urkesh zu finden.»
Die Lösung: Agatha Christie. Watson brauchte dazu weniger als eine Sekunde und war somit schneller als die beiden menschlichen Teilnehmer. Watson war auch bei den anderen Fragen überlegen und gewann das Quiz. Preissumme: 1 Million Dollar.
Diagnose aus dem Computer
Seit diesem denkwürdigen Fernsehauftritt vor fünf Jahren hat IBM Watson weiterentwickelt. Nun ist die Maschine so mächtig, dass sie Ärzte bei der Diagnose unterstützen kann. Bevor der Computer jedoch an der Uniklinik in Marburg im Alltag zur zum Einsatz kommt, muss die Maschine noch lernen.
Watson muss medizinische Literatur verinnerlichen, in der Symptome und Krankheitsbilder beschrieben werden. Jürgen Schäfer gibt ein Beispiel: «Der Patient ist taub, blind und hat unbestimmtes Fieber. Vor sechs Monaten wurde ihm eine Hüftprothese implantiert. Der Computer generiert uns die Verdachtsdiagnose «Metallvergiftung durch die Hüftprothese». Das ist heute schon möglich.»
Schneller als der Mensch
Im nächsten Schritt geht es darum, Watson so zu trainieren, dass er auch bei seltenen und unbekannten Erkrankungen Vorschläge machen kann. Auch da zeichnen sich schon Erfolge ab: «Wir haben erste gute Erfahrungen gemacht mit Patienten, die wir mühselig von Hand diagnostiziert haben. Wir freuen uns nun, dass Watson diese Diagnose in ein paar Sekunden schafft.»
Bereits Anfang des nächsten Jahres soll der Computer dann so kompetent sein, dass er Teil der Alltagsroutine an der Klinik wird.
Ersetzt der Computer den Arzt?
Die Maschine schafft eine Diagnose in Sekunden, wofür die Mediziner zum Teil Tage brauchten. Da drängt sich die Frage auf: Braucht es in Zukunft überhaupt noch Ärzte?
Jürgen Schäfer schmunzelt. Für ihn ist Watson vergleichbar mit dem Bordcomputer eines Flugzeugs. Piloten gibt es trotzdem noch. Und so lange der Computer kein Mitgefühl mit den Patienten aufbringen kann, brauche es auch die Ärztin, den Arzt, ist der Mediziner überzeugt. Für ihn ist der Computer aber ein so mächtiges Hilfsmittel, dass wir es uns nicht erlauben können, darauf zu verzichten.
Doch nicht überall macht Watson Sinn. Bei einfachen Diagnosen geht es auch ohne: «Ein Herzinfarkt oder eine Gallenkolik erkennt bei uns schon der Pförtner» so der Wissenschaftler.
Watson ist etwas für anspruchsvolle Fälle: «Kompliziertere Erkrankungen, wo man längere Zeit nachdenken muss. Wo man dann in die Literatur, in die Bibliothek gehen muss – nachblättern, suchen, denken. Da wird Watson das Klären, das Überlegen und das Denken zu dem jeweiligen Krankheitsbild enorm erleichtern und beflügeln» ist Jürgen Schäfer überzeugt.
Schon bald könnte also der Computer beim Arzt genau so zu unserem Alltag gehören wie der Autopilot im Flugzeug. Und an den haben wir uns schon lange gewöhnt.