Zwei Männer fahren mit dem Schneemobil hinaus auf den gefrorenen Ozean vor Alaskas nördlichster Küste. Hinter ihnen leuchtet das Weiss der verschneiten Tundra, vor ihnen breitet sich das endlose Weiss des Meereises aus. Sie stoppen vor einem Riss, in dem das eiskalte Wasser dunkel und drohend schwappt.
Der Eisforscher Hajo Eicken und der Wal- und Robbenjäger Joe Leavitt prüfen die Lage. Im Mai schmilzt das Eis unter der erstarkenden Sonne – das ist normal. Aber in den letzten Jahren sei die Schmelze immer stärker geworden, erzählt Hajo Eicken, von der University of Alaska: «2007 war das erste Jahr, in dem es einen drastischen Rückgang im Sommer gegeben hat und 2012 haben wir einen sehr starken Rückgang insbesondere des alten Eises gesehen.»
Auswirkungen aufs Jagdrevier
Altes Eis hat mindestens einen Sommer überlebt, ist also mehrere Jahre alt. Mit 3,4 Metern Dicke ist es massiver als junges Eis, das gerade im vergangenen Winter entstanden ist. Altes Eis hält die Sonne also besser aus. Aber es gibt fast keines mehr davon, sagt Jäger Leavitt. Das sei ein Problem.
Für die Jäger ist dies gefährlich, weil das junge dünne Eis öfter bricht. Leicht können sie während der Waljagd auf eine isolierte Scholle geraten und abgetrieben werden.
Auch für die Forscher bringt die Rekordschmelze Unsicherheit, sagt Hajo Eicken. «Jetzt sind wir dabei, uns zu überlegen, wie sich diese drastische Änderung im Verhältnis zwischen mehrjährigem und einjährigem Eis auswirkt.»
Klimaerwärmung wirkt sich weltweit aus
Klar ist jetzt schon: Die Vorgänge in der Arktis wirken sich global aus, sagt Larry Hinzman, ein Kollege Eickens an der University of Alaska. In der Arktis hänge alles zusammen. Und so beeinflusse der Rückgang des Meereises viele Prozesse: die Wolkenbildung, Niederschläge, die Vegetation. Über Rückkoppelungen beschleunige er auch die weitere Erwärmung der Arktis und verändere vermutlich sogar das Wetter in Europa.
Bereits heute hat sich die Arktis doppelt so stark erwärmt wie der Rest des Globus. Dies, weil im Sommer immer mehr Ozeanfläche eisfrei ist und das Meer die Sonnenwärme aufsaugt und speichert. Diese Wärme taut den gefrorenen Meeresboden an, der wie ein Deckel über gigantischen Lagerstätten von Methangas liegt: Der angetaute Deckel wird löchrig und das Treibhausgas Methan dringt nach oben.
Einige Forscher wie der Brite Peter Wadhams warnen, dies werde die Erwärmung des ganzen Globus drastisch nach oben treiben. Dadurch stiegen die Meere noch mehr an, und im Süden komme es zu vermehrten Dürren. Die Folge: weltweite Schäden von 6000 Milliarden Dollar durch Überschwemmungen, Erosion, Ernteausfälle.
Der Wandel ist im Alltag zu spüren
Aber das sind noch nicht einmal alle Schreckensszenarien: Auch der kilometerdicke Eispanzer auf Grönland schmilzt stellenweise. Potentiell könnte der Meeresspiegel allein dadurch um einen weiteren halben Meter oder deutlich mehr ansteigen.
Allerdings sind die meisten Forscher weitaus zurückhaltender in ihren Prophezeiungen als Peter Wadhams. Zum Beispiel Larry Hinzman von der Alaska University: Der Permafrost auf dem Meeresgrund taue tatsächlich rasch. Aber es spielten so viele Faktoren mit, dass eine genaue Prognose unmöglich sei.
Grosse Unklarheiten also, wie es weiter geht in der Arktis. Doch im Alltag der Bewohner ist der Wandel schon zu spüren, erzählt der Jäger Joe Leavitt. Neben dem Rückgang des Eises verändere sich auch das Ökosystem an Land und auf See. Während der Waljagd tauchen nun Arten auf, die früher nie so weit nach Norden vorgestossen seien, etwa Buckelwale. Sie gewinnen Lebensräume dazu.
Eisbären sind gefährdet
Zu den Verlierern gehören Walrosse und Eisbären, die aufs Meereis angewiesen sind. Walrosse nutzen es als Plattform, von der sie nach Muscheln tauchen. Die Eisbären jagten darauf nach Robben, erzählt der Zoologe Todd Atwood vom US Geological Survey. Doch im Sommer zieht sich das Meereis nun weit nach Norden zurück. Dort ist das Meer tief und es gibt weniger Nahrung. 2012 war der Eisrand 450 Kilometer von der Nordküste Alaskas entfernt.
Todd Atwood beobachtete einen Eisbären, der diese 450 Kilometer durchschwamm, um an Nahrung zu gelangen. Dies kostet viel Energie – wohl zu viel für die Eisbären, um längerfristig zu überleben. Die Forscher rechnen damit, dass ihre Zahl in den nächsten 50 Jahren um zwei Drittel zurückgehen wird.
Eine düstere Prognose mehr, die den tiefgreifenden Wandel in der Arktis deutlich macht.